Das brisante Thema der Migration ist der SVP praktisch überlassen worden: sie hat das Erbe der Nationalen Aktion und der Republikaner aufgesogen und sich darauf spezialisiert, jedes Fehlverhalten von Ausländern, alle Mängel im Anwenden der entsprechenden Gesetzen ungestört auszuschlachten. So entsteht zwar ein verzerrtes Bild, doch indem das Unbehagen über die Migration geschürt wird und Asylsuchende als Schmarotzer hingestellt werden, kann man heute Stimmen gewinnen.
Der SVP-Stratege Christoph Blocher war sogar vier Jahre lang Justizminister, er hat die neunte Revision des Asylgesetzes durchgebracht - dank der unterwürfigen Unterstützung durch die FDP und einer Mehrheit der CVP, aber die Mängel in der Anwendung des Asylgesetzes hat er nicht behoben. Der SVP-Bundesrat hatte das Ziel, möglichst viele Asylsuchende abzuweisen und nur Nothilfe zu leisten. Ob und wie die abgewiesenen Menschen in ihr Herkunftsland zurückkehrten, das schien ihn weniger zu interessieren. Blocher entschied jedoch, dass provisorisch aufgenommene Asylsuchende arbeiten dürfen und Sozialleistungen beziehen können – das ist ihm zugute zu halten. Die Nachfolgerin Eveline Widmer-Schlumpf hatte keine glückliche Hand. Sie wollte mit einer weiteren Revision des Asylgesetzes einige Probleme lösen, doch das Parlament hat den Vorschlag, da nicht zweckmässig, zurückgewiesen.
Asylpolitik in Schwierigkeiten
An ihrer Pressekonferenz nach 100 Tagen im Amt, hat sich Simonetta Sommaruga sehr offen zur Asylpolitik geäussert: Schon zehnmal sei das 1981 in Kraft getretene Gesetz revidiert worden. Damit spielte sie darauf an, dass eine Revision die andere abgelöst hat, die wenig durchdachten Änderungen jedoch nie die gewünschten Wirkungen zeitigten. Unbefriedigend sei zudem, dass von den anerkannten Flüchtlingen im erwerbstätigen Alter bloss 20 Prozent einer Arbeit nachgingen. Die Schuld dafür darf nach meiner Auffassung nicht einfach den Flüchtlingen in die Schuhe geschoben werden. Vieles deutet darauf hin, dass Ausbildung und Arbeitssuche - eine arbeitsintensive Aufgabe - von den zuständigen Hilfswerken und Behörden zu wenig gefördert werden. Für Sozialarbeiter und die Verwaltung mag es einfacher sein, diesen Menschen von der Fürsorge unterstützen zu lassen. Für ihre Selbstachtung und ihre Würde wäre es jedoch besser, wenn sie auf eigenen Füssen stehen könnten; dadurch würden gleichzeitig Fürsorgegelder gespart.
Das lange dauernde Asylverfahren ist auch für Sommaruga ein Ärgernis, und sie möchte die Wartezeit bis zum definitiven Entscheid verkürzen. Die Bundesrätin nennt auch Argumente, die von ihren Vorgängern und dem Bundesamt für Migration bisher ignoriert oder heruntergespielt wurden. In einem Interview mit Radio DRS wies Sommaruga daraufhin, dass in den Empfangsstellen wie in Chiasso die vorwiegend jungen Männer aus den verschiedensten Ländern manchmal mehr als zwei Monate auf engen Raum untätig zusammenleben, danach weitere Monate in Durchgangszentren oder in einer Wohnung verbringen, weiterhin ohne Beschäftigung. Meine Frage: Ist es nicht fahrlässig, wenn Menschen viele Monate oder vielleicht mehr als ein Jahr gezwungenermassen untätig sind? Was bleibt ihnen anderes übrig als herumzuhängen? Da überrascht es nicht, dass sie manchmal unangenehm auffallen und in die Kleinkriminalität abgleiten. Dieser Missstand ist meiner Meinung nach nicht allein mit einem rascheren Verfahren zu beheben, dazu braucht es zusätzliche Initiativen. In Chiasso beispielsweise bietet die Gemeinde zeitweise kleinere Unterhaltsarbeiten für Asylsuchende an, für die immerhin ein Trinkgeld bezahlt wird, und für diesen Frühling ist ein Fotografie-Projekt mit Asylsuchenden und Einheimischen in Zusammenarbeit mit dem Museo Vela in Ligornetto geplant. Das sind bloss Tropfen auf einen heissen Stein. Es wäre eine grosse Leistung, wenn die neue Bundesrätin in diesem Bereich etwas bewegen könnte. Bisher hat das Bundesamt für Migration die Untätigkeit der Asylsuchenden vorgezogen, weil es befürchtet, die Schweiz würde attraktiver, sobald sie Gelegenheit hätten, zu arbeiten oder zu lernen. Doch die Asylsuchenden kommen ohnehin, und wenn sie während ihres Aufenthalts etwas lernten oder verdienten, würden sie nach der Rückkehr in ihr Land davon profitieren. Möchte man die Menschen aus den Ländern des Südens abschrecken, in die Schweiz zu kommen, so würde das eher mit einer konsequenten Rückführung jener Asylsuchenden gelingen, die gemäss Gesetz keine glaubhaften Asylgründe vorbringen.
Damit ist ein weiteres heikles Thema angesprochen. Ist nämlich ein Entscheid definitiv, muss der abgewiesene Asylbewerber die Schweiz verlassen; doch viele bleiben und tauchen unter. Die Bundesrätin gibt zu bedenken, dass die Glaubwürdigkeit der Asylpolitik in Frage gestellt werde, wenn nach einem aufwändigen Verfahren der negative Asylentscheid nicht vollzogen wird. Das leuchtet ein und grundsätzlich sind auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe und viele Hilfswerke der Meinung, abgewiesene Asylsuchende müssten die Schweiz verlassen. Zwar gibt es solche, die nicht heimgeschickt werden können, weil zu Hause Folter oder Todesstrafe drohen, und es gibt Regierungen, die sich weigern, Bürger aufzunehmen, die nicht freiwillig heimkehren. Hier möchte Sommaruga durch Rücknahmeabkommen mit weiteren Staaten erreichen, dass Abgewiesene in grösserer Zahl heimkehren. Eine weitere Idee besteht darin, Migrationspartnerschaften mit verschiednen Staaten zu festigen und neue abzuschliessen. Das bedeutete beispielsweise, Asylsuchenden in ihrem Herkunftsland finanziell zu helfen, sich eine Existenzgrundlage aufzubauen, aber auch befristete Ausbildungsaufenthalte in der Schweiz anzubieten. Das bei einer kürzeren Verfahrensdauer eingesparte Geld könnte nach Meinung der Bundesrätin für eine verbesserte Rückkehrhilfe verwendet werden. Verlassen abgewiesene Asylbewerber tatsächlich unser Land, gäbe das wirklich bedrohten Asylsuchenden eine bessere Chance, aufgenommen zu werden. In diesem Zusammenhang ist Bundesrätin Sommaruga aufgrund einer Bitte des Uno-Hochkommissariats für Flüchtlinge bereit, nach einer mehrjährigen Pause, wieder ein Kontingent von 35 Flüchtlinge in die Schweiz aufzunehmen.
Versäumte Integration kommt teuer zu stehen
Der Bundesrat hatte vor den Abstimmungen über Volksinitiativen zur drastischen Reduktion der Zahl der Ausländer in den vergangenen Jahrzehnten jeweils betont, die Integration der ausländischen Bevölkerung müsse entschlossen gefördert werden. Nachdem die Initiativen vom Volk verworfen waren, vergass der Bundesrat sein Versprechen, und er überliess die Aufgabe den Städten und den Kantonen. Sommaruga schlägt jetzt Alarm und setzt zwei Schwerpunkte:
• Sie will die „nachholende Integration“ fördern, die sich an seit langem in der Schweiz lebende schlecht qualifizierte ausländische Arbeitskräfte richtet, die durch verschiedene Angebote auf dem Arbeitsmarkt wieder konkurrenzfähig werden sollen. Die Bundesrätin betont: „Hier bezahlen wir für die Versäumnisse der letzten 30 – 40 Jahre einen hohen Preis!“
• Sie möchte schweizweit jene Integration einführen, die mit der Ankunft in der Schweiz beginnt, damit mangelnde Kenntnisse der lokalen Sprache von Kindern, Jugendlichen im Berufswahlalter und Eltern sofort erkannt werden und mit dem Angebot von Kursen, wenigstens teilweise, beseitigt werden können. Einige Kantone habe die periodische Begrüssung aller Zuzüger aus dem Ausland und aus andern Kantonen bereits verwirklicht, andere haben das nachzuholen. Der frühe Kontakt zu den neuen Kantonsbewohnern bietet nämlich Gewähr, dass Schwierigkeiten früh erkannt und auf die erforderlichen Hilfsangebote hingewiesen werden kann.
Mit ihrer offenen Sprache, sofern danach die entsprechenden Entscheid fallen, könnte die neue Bundesrätin das Vertrauen der Bevölkerung in die Asyl- und Ausländerpolitik teilweise zurückgewinnen. Vom Bundesrat wurde ihr ein schwieriges unbeliebtes Departement überlassen; das könnte sich im Nachhinein sogar als Glücksfall erweisen.