Nach der Probe sitzen wir zusammen, um über «Lenz» zu sprechen. «Du musst deinen Artikel so anfangen», diktiert er mir ins Aufnahmegerät: «Wir sassen in einer Kantine, die war so lärmig, und es ist mir nicht gelungen, den Dügg in das schöne, nüchterne Sitzungszimmer zu bringen, wo es so keimfrei ist, und das war eine ganz schwierige Geschichte ...» (Originalton Düggelin).
Du wirst genau diese Einleitung lesen, lieber Dügg, ist das gut?
«Ja.»
Ok, dann ist der Anfang schon mal geschafft.
Natürlich ist es lärmig in der kleinen Kantine des Schauspielhauses, die Werner Düggelin unbedingt als Treffpunkt wollte. Aus der Küche scheppert die Geschirrwaschmaschine, Teller werden aufeinandergestapelt, Besteck sortiert und der Koch ruft auch noch was. Und in der Kantine selbst albern ein paar Schauspieler herum, es wird gegessen und getrunken, gekichert und diskutiert.
Klar, eine wunderbare Atmosphäre, man fühlt sich sofort wohl, aber eben, für Tonaufnahmen suboptimal. Dügg setzt sich aber durch, und bald lässt auch der Geräuschpegel spürbar nach.
Warum «Lenz», diese doch eher triste Geschichte, frage ich. Es geht darin um den jungen Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz, der während seines Aufenthaltes bei Pfarrer Oberlin in den Vogesen zunächst das Familienleben der Pfarrfamilie geniesst, dann aber zunehmend dem Wahnsinn verfällt. Er wandert noch mit seinem Freund Kaufmann, wird aber nach einem Selbsttötungsversuch von Pfarrer Oberlin zur Behandlung nach Strassburg gebracht. Warum also «Lenz»?
Düggelin denkt einen Moment nach. «Meiner Meinung nach interpretiert man das immer falsch, wenn man Lenz als Wahnsinnigen ansieht», sagt er. «Für mich ist es etwas ganz anderes. Für mich ist das eine Geschichte aus unserer Gesellschaft. Lenz ist ein Mann, der mit seiner Leidenschaft, mit seiner Absolutheit an die Grenze geht. Das sind für mich wunderbare Menschen.» Lenz ist also keiner der Weichgespülten, Angepassten. Er lässt seinen Gedanken und Ideen freien Lauf und eckt damit an. «Heute haben wir das Problem, dass man solche Menschen einsperrt. Und ich versuche nun in meiner Inszenierung, Lenz nicht als krank darzustellen, sondern einfach als wunderbaren Typ, der eine unendliche Phantasie hat und einen unendlichen Mut zur Leidenschaft. Er ist absolut kein Kranker!»
Unglaublich poetischer Text
Manchmal wird «Lenz» auch als Fluchtgeschichte interpretiert. Könnte das vielleicht bei all den Fluchtbewegungen heutzutage auch ein aktueller Ansatzpunkt sein? «Das sehe ich überhaupt nicht so», wehrt Düggelin gleich ab. «Mit den Fluchtbewegungen heute hat das überhaupt nichts zu tun. Ich mache nichts, das man damit in Verbindung bringen könnte, nein, nein …»
Seit etwa einem Jahr arbeitet Düggelin an diesem Stoff. «Es ist etwas, das mich wahnsinnig beschäftigt. Weil ich in meinem Leben ein paar Mal erlebt habe, dass ich zum Beispiel Menschen aus der Psychiatrie rausgeholt habe, die wahnsinnigerweise dort eingesperrt worden sind», sagt er. «Hinzu kommt, dass es ein unglaublich poetischer Text von Büchner ist!»
«Lenz» ist allerdings kein Theaterstück, sondern eine Erzählung. Und auf der Bühne? «Es ist keine Dramatisierung, es geht einfach um die Untersuchung zweier Personen, also Oberlin und Lenz. Der Text ist bei uns Original. Aber für die Bühne zurechtgestutzt. Büchner selbst hat vieles aus den Aufzeichnungen von Oberlin geklaut. Aber das macht nüüt ...!», stellt Düggelin gleich klar. Sicherheitshalber hat er seine Textfassung dem Literatur-Professor Peter von Matt vorgelegt. «Von Matt hat es angesehen und als ‘poetisches Oratorium’ bezeichnet …», sagt Düggelin mit einem Lächeln.
Alte Kumpanen
Das Thema sei jedenfalls heute so aktuell wie damals, fährt er fort. «Dass ich das nun endlich auf die Bühne bringen kann, das berührt mich schon sehr. Ich will nur zeigen, wie wunderbar Menschen sind, die viel Phantasie haben. Und wie schlimm es ist, dass andere Menschen, die eigentlich ganz in Ordnung sind, das für Wahnsinn halten.»
Und was kann man dagegen tun? «Nichts», sagt Düggelin. «Immer wieder darauf aufmerksam machen», fügt er dann noch bei.
Einer seiner Darsteller ist André Jung. Er ist ein langjähriger Weggefährte Düggelins und kennt sich aus in den Feinheiten Düggelinscher Regie, da muss er wohl kaum mehr etwas erklären. «Habt ihr eine Ahnung!», protestiert Düggelin sofort. «Das meint ihr immer. Aber es ist natürlich anders als mit einem Schauspieler, der neu dazu kommt. Wenn ich dem André einen halben Satz sage, dann ist ihm schon alles klar.» Praktisch, kann man da nur sagen. «Ja, ja, aber auch die Arbeit mit Neuen ist schön, dieses Aufeinanderzugehen. Ich finde beides gut.» Und so hat er nun ein kleines Team aus alten Kumpanen und neuen Kollegen beieinander.
Mut zur Leidenschaft
Rund sechzig Jahre ist es her, seit Düggelin hier am Zürcher Schauspielhaus seine ersten Theatererfahrungen gesammelt hat, bevor er in Basel Theaterdirektor wurde und dort in der Stadt eine regelrechte Theatereuphorie entfesselte, die bis heute legendär ist. Gelungen ist ihm dies, weil er auch zu denen gehört, die viel Phantasie und Mut zur Leidenschaft haben. Genau jene Eigenschaften, die Düggelin an «Lenz» so schätzt.
Die wievielte Düggelin-Inszenierung ist denn das nun am Zürcher Schauspielhaus? «Keine Ahnung. Das interessiert mich nicht», sagt er lakonisch. Das Schauspielhaus hat allerdings nachgezählt und ist – inklusive «Lenz» – auf 55 gekommen. Lampenfieber vor der Premiere kennt er nicht. «Lampenfieber habe ich vor der ersten Probe», sagt er dann. «Es geht schliesslich darum, ob man dem Text gerecht wird. Zum Glück habe ich drei wunderbare Schauspieler.»
Sagt’s und steht auf. Jetzt ist Zeit für eine Ruhepause.
«Lenz»
Nach der Erzählung von Georg Büchner
Schauspielhaus Zürich
Schiffbau/Box
Premiere: 15. September 2018