Von Dieter Imboden (Text) und Norbert Bruggmann (Bilder)
Chiavenna ist für den Reisenden, der nach einer langen Fahrt über den Comersee in Colico den Zug bestiegen hat, vorerst nur ein Name in weisser Schrift auf blauem Grund. Stellen wir uns vor, dieser habe weder Zeit noch Lust gehabt, vorher einen Reiseführer zu studieren. Noch etwas benommen, weil er ein paar Mal eingenickt war und ihn der Schaffner schliesslich wachrütteln musste, steht er nun unvermittelt auf einem Bahnsteig, an dessen Ende ein Prellbock die Worte des Schaffners zu unterstreichen scheinen: „Nein, mein Herr, hier enden die Schienen, wenn Sie ins Engadin wollen, müssen Sie sich nach einem andern Verkehrsmittel umsehen.“
Gemächlich schlendert unser Freund über den Bahnhofplatz, planlos, aber mit dem wachen Blick eines Erforschers einer neuen Welt, dessen Schauen noch nicht verbildet ist durch die Macht der Gewohnheit.
Neben einer Bar weist ein blaues Schild, das an der Wand lehnt, den Betrachter daraufhin, die „Servizi/Toilets“ seien irgendwo oben im Himmel. Gegenüber trägt eine Reihe überdimensionierter Farbstifte das Dach einer Art Bushaltestelle: Von Türkis bis Grau gehen die Farben, als ob sie das Spektrum des Himmel ausloten wollten. Ein Stück weiter zaubert die Sonne einen Zebrastreifen auf die Strasse, der sich irgendwo verliert. Unser Freund folgt ihrem Ruf und erblickt sie schliesslich in einer schmalen Gasse, ein geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen, an einem mächtigen Quaderstein eines Hauses. Sie mahnt ihn an das Emblem, mit dem jener Ort, den er auf seiner Reise zu erreichen gehofft hatte, in der ganzen Welt auf sich aufmerksam macht.
Auf der Suche nach der Hauptgasse wird er von oben kritisch beobachtet. Vor einem Kleidergeschäft sitzen, bewegungslos und mit gestrecktem Rücken, zwei Frauen. Das Schaufenster eines Metzgers erinnert ihn daran, dass er hungrig ist, doch da lockt ihn eine enge Pforte, welche auf den mit Bollensteinen gepflasterten Platz führt und deren Geheimnis er gerne genauer ergründen möchte. Die seltsam geformten Pflastersteine vor einem alten Brunnentrog weckt seine Neugierde: Runde Steine mit einem Loch in der Mitte. Er wird sie später im Garten des Palazzo Vertemate wieder antreffen und dort erfahren, dass es Abfallprodukte aus den Specksteinmanufakturen sind, denen Chiavenna und vor allem das einstige Piuro einen Teil ihres Reichtums verdanken.
Dass Stadtluft offenbar nicht nur frei macht, erfährt er wenig später: In einer Mauerecke hängt ein Halseisen an einer Kette. Hier seien einst verurteilte Straftäter ausgestellt worden, sagt eine Tafel. Sicher alles im Namen des Christentums, denkt er. Als ob sie seine Gedanken hätten lesen können, fangen die Glocken einer nahen Kirche an zu läuten. Eine Marienstatue erinnert an andere christliche Tugenden, an Vergebung und Demut zum Beispiel.
Demut – was für ein altmodisches Wort. Reichtum und Erfolg scheint auch in dieser Stadt das Leben in Demut schwierig gemacht zu haben, denkt er, als er den Friedhof betritt, der unter mächtigen Felsen liegt, welche sich in dieser Stadt wie die Leiber von Dinosauriern zwischen Häuser und Gärten schieben. Wahre Paläste finden sich auf dem Friedhof, einige als Tempelvorbauten gestaltet, welche einen Kaverneneingang in die Felswand vortäuschen.
Woher der Reichtum dieser Stadt, fragt sich der neugierige Stadtgänger. Zurück in den engen Gassen entdeckt er, dass es hier nicht nur Paläste für die Toten gibt, sondern auch solche für die Lebendigen. Häuser, Gassen und Plätze tragen Namen, die er hier nicht vermutet hätte: Pestalozzi zum Beispiel, oder Salis. Auch Personen aus neuster Zeit werden auf Tafeln geehrt, so ein gewisser Clyde Geronimi, Walt-Disney-Regisseur, der u. a. den Zeichentrickfilm „101 Dalmatiner“ geschaffen haben soll. Auf einer unscheinbaren silbrigen Tafel, welche lieblos auf ein verunziertes Stück olivgrüner Mauer geschraubt worden ist, liest er einen magischen Namen: Casa Vertemate.
... So etwa könnte es dem unbekannten Reisenden auf seinem Gang durch Chiavenna ergangen sein. Hoffen wir für ihn, ein guter Geist hätte ihm schliesslich das gelbe Postauto gezeigt, das – als kleiner Trost für die nie gebaute Eisenbahnlinie über den Malojapass – mehrmals täglich Chiavenna mit St. Moritz verbindet.
Wir aber, mein kultureller Inspirator Norbert und ich, sind unterdessen ein Stück das Tal der Mera hinauf Richtung Malojapass gefahren und stehen nun unweit des einstigen Piuro beim Eingang des Palazzo Vertemate Franchi. Heute ist die kleine Tür zum Büro für Besucher offen. Weil wir einige Minuten zu spät sind, befürchten wir, die Zehnuhr-Führung sei schon unterwegs, doch unsere Angst ist unbegründet, wir sind die einzigen Gäste. Wir hätten uns wegen Covid-19 vorher anmelden sollen, informiert uns der Verantwortliche freundlich – wie wir später erfahren, ist er von Beruf Geigenbauer, aber schon seit Jahrzehnten im Palazzo Vertemate tätig.
Trotz fehlender Anmeldung ist er bereit, uns seine Schätze zu zeigen. Einmal ins Erzählen gekommen, sprudelt es nur so aus ihm heraus, in gutem Deutsch sogar, meinen schlechten Italienischkenntnissen zuliebe. Das Valchiavenna hätte schon immer eine starke Beziehung zur deutschsprachigen Schweiz gehabt, wegen den Schweizer „Gastarbeitern“, den Söldnern, Zuckerbäckern, Säumern und Handelsleuten, aber auch wegen der fast 300-jährigen Besetzung durch die Drei Bünden, welche anfangs des 16. Jahrhunderts unter Conrad von Planta das Veltlin und das Valchiavenna erobert hatten.
Weniger zwiespältig als die Erinnerungen an die einstige bündnerische Besetzung seien die Beziehungen zu andern Teilen der Schweiz gewesen, insbesondere zu den Städten Zürich und Basel, mit denen man einen regen Austausch in Handel, Wissenschaft, Kunst und Fragen der Religion gepflegt habe. Lange Zeit waren das Veltlin und das Valchiavenna Zuflucht für die cisalpinen Protestanten. Viele ursprünglich aus Chiavenna und Piuro stammende Familien seien nördlich der Alpen sesshaft geworden, so die Pestalozzi bzw. Pestalozza, wie sie in Chiavenna noch hiessen, aber auch der Handelsherr Achilles Vertemate, der 1583 seinen Wohnsitz nach Basel verlegte und dessen Nachkommen sich später Werthemann nannten. Der reformierte Zweig der Familie, aus dem Textilfabrikanten, Bankiers und Professoren hervorgingen, floriert bis heute, während der im Valchiavenna verbliebene katholische Teil, welcher sich mit dem Beinamen Franchi kennzeichnete, ausgestorben ist.
So wandern wir also mit unserem beredten Geigenbauer (auch sein Name verrät Beziehungen zur Schweiz: Ralph Oliver Gschwind-Guanella) durch den Palazzo Vertemate Franchi und vernehmen, wie vor 800 Jahren mediterrane Kultur in ein von Felsen eingeschlossenes enges Tal gelangt ist. Im Jahre 1215 sandten die gibellinischen Herrscher von Como einen gewissen Ruggero Della Porta als Stadtvogt nach Piuro. Er wurde sesshaft und nannte sich im Gedenken an seine Herkunft aus dem südlich von Como gelegenen Vertemate con Minopio künftig Vertemate. Die Familie gehörte in Piuro bald zu den Angesehensten.
Jahrhunderte später, im Jahre 1578 erwarben die Gebrüder Guglielmo und Luigi Vertemate bei Cortinaccio ein Stück Land und bauten dort ein prächtiges Sommerhaus, das von grossen landwirtschaftlichen Ländereien umgeben war. wo Orangen- und Zitronenbäume wuchsen, es gab einen Rebberg einen Kastanienhain, einen Fischteich und vieles mehr. Als 1618 die Stadt Piuro durch einen Bergsturz vollständig zerstört wurde, verlegte die Familie ihren Hauptwohnsitz in ihren einstigen Sommerpalast.
Ich will es gar nicht versuchen, diesen Palast und seine Gärten zu beschreiben. Ein paar Hinweise und Bilder werden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, vielleicht zu einem eigenen Besuch animieren.
Bemerkenswert sind schon die Wände des Eingangsbereichs, auf denen – wie in einem Gästebuch – wichtige Besuche festgehalten sind. Der älteste Schriftzug trägt das Datum 1619. Die üppig ausgemalten Zimmer erzählen Geschichten aus der Antike. Es gibt das Zimmer von Jupiter und Merkur, des Perseus, des Napoleons, der Signora Maria Eva Sala, es gibt das Amorzimmer und das Zimmer Junos, das auch untere Stüva genannt wird.
Als unser Führer das Wort „Stüva“ nennt, fällt es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. Ob seine Institution eine Beziehung zum Seattle Art Museum hätte und ob er sich an den Besuch einer Kuratorin vor ein paar Jahren erinnern könne, frage ich ihn. Nach kurzem Nachdenken nickt er. Das Museum in Seattle sei im Besitz einer vollständigen Stüva aus Chiavenna, allerdings nicht aus dem Palazzo Vertemate. Er erinnere sich auch an den Besuch aus Amerika.
So klein ist die Welt: Unsere langjährige Freundin Julie Emerson aus Seattle, die während vielen Jahren im Seattle Art Museum als Kuratorin für europäische dekorative Kunst verantwortlich gewesen ist und mit deren Mann Steve ich gemeinsam Seen und Ozeane erforscht habe – beide lebten während mehreren Jahren in der Schweiz –, hat Chiavenna mehrmals besucht und uns jeweils begeistert von der Stadt und ihren Palästen berichtet. Vor zwei Jahren haben meine Frau und ich die expatriierte Stüva in Seattle besichtigt.
Als ich am Nachmittag in Colico, wohin mich Norbert und Barbara mit dem Auto gefahren haben, an Bord des Tragflügelboots gehe, über den See flitze und in Como den Zug nach Zürich besteige, bin ich nicht allein. Mit mir reisen all die vielen Menschen, welche während den vergangenen Jahrhunderten in den tief eingeschnittenen Tälern der Lombardei ihre kulturellen Spuren hinterlassen und den unberechenbaren Kräften der Natur getrotzt haben. Es ist mir, als ob ich mit ihnen während der letzten Tage durch die vielen Zeugnisse ihrer einstigen Tätigkeiten in einem Dialog gestanden wäre.
Teil 1 dieser Reportage ist im Journal 21 unter folgendem Link erschienen.