Mehr als 111 Millionen Amerikaner schauten am Fernsehen zu. Und tranken dabei schätzungsweise 420 Millionen Liter Bier. Was immer das heissen mag. Egal, wie stark die Wirtschaft lahmt, wie hoch die Arbeitslosigkeit steigt oder wie weit sich die Einkommensschere auftut. Egal auch, wie verachtet die Politiker beider Parteien sind, wie volksfern die Regierung in Washington agiert oder wie rapid das Ansehen der Nation weltweit sinkt. Egal ferner, wie bedrohlich das Gesundheitssystem siecht, die Infrastruktur bröckelt oder die Schulen und Universitäten darben.
Am ersten Sonntag im Februar, wenn sie die Super Bowl spielen, sind alle Amerikaner gleich, unabhängig von Einkommen, Status, Hautfarbe oder Religion. Zwar kann es sich längst nicht jeder leisten, Tausende von Dollar zu bezahlen, um bei diesem gigantischen Sportanlass direkt dabei zu sein. Ein einzelnes Ticket ist laut der National Football League (NFL) vergangene Woche für 16 480 Dollar verkauft worden. Die 68 658 Zuschauer im Lucas Oil Stadium in Indianapolis bezahlten im Schnitt 2900 Dollar Eintritt.
Neun Millionen Pizzas
Wer nicht im überdachten Stadion sass, machte es sich zu Hause auf dem Sofa oder in einer Bar auf dem Hocker vor dem Flachbildschirm bequem, mit Unmengen von Bier, Pizza, Bretzeln, Chips und Crips als Zwischenverpflegung. Laut einer Schätzung des „Wall Street Journal“ sind während des Finalspiels zwischen den „New York Giants“ und den „New England Patriots“ landesweit gegen sechs Millionen Kilo Bretzeln, 22 Millionen Kilo Kartoffelchips und über 32 Millionen Kilo Guacamole verzehrt worden. „Domino’s Pizza“ schätzt, dass die Firma am Sonntag rund neun Millionen Pizzas an Kunden geliefert hat. Und der Verband der Geflügelzüchter hatte prognostiziert, die Amerikaner würden während der Super Bowl 1,25 Milliarden Hühnerflügel verzehren. Mit solchen Mengen könnten hungernde Nationen ernährt werden.
Und wer sich in diesen Tagen nicht nur für Sport interessierte, nahm vielleicht zur Kennntis, dass laut einer Umfrage von „Washington Post“ und ABC News der demokratische Präsident Barack Obama den republikanischen Herausforderer Mitt Romney mit 53 zu 43 Prozent schlagen würde, falls die Amerikaner heute wählten. Damit hat der Präsident erstmals erneut die psychologisch wichtige 50-Prozent-Marke überschritten, die für eine Wiederwahl als erforderlich gilt. Dass Obamas Beliebtheit trotz des wirtschaftlichen Pessimismus im Lande steigt, dürfte dem republikanischen Parteiestablishment im Hinblick auf den Urnengang im November etliche Sorgen bereiten. Ebenso wie der Umstand, dass Favorit Romneys erzkonservativer Konkurrent Rick Santorum am Dienstag drei Vorwahlen teils überraschend für sich entschied.
Ein Hund nimmt ab
Amerikas Super Bowl ist die Verkörperung des Exzesses, eine Übung in Masslosigkeit, Realität gewordener Traum jedes Marketingmanagers. Ein 30-sekündiger TV-Werbespot während des Spiels in Indianapolis kostete 3,5 Millionen Dollar. Allein in den vergangenen zehn Jahren haben der Autobauer General Motors 83 Millionen Dollar, die Getränkefirma PepsiCo 174 Mio. $ und die Brauerei Anheuser-Busch 239 Mio. $ für Fernsehwerbung während der Super Bowl ausgegeben. Derweil generiert die NFL, die einträglichste Sportliga der Welt, jährlich Einnahmen von rund neun Milliarden Dollar, nicht zuletzt dank Fernseh-Übertragungsrechten. Trotzdem will die Liga weiter wachsen, vor allem im lukrativen Grossraum Los Angeles, wo derzeit kein Profiteam domiziliert ist.
Die einzelnen Fernsehspots wiederum werden evaluiert, seziert und interpretiert. Sie gelten gemeinhin als Indiz für das ökonomische und psychische Wohlbefinden der Nation. Wobei Werbung mit Tieren erfahrungsgemäss erfolgreicher ist als solche mit Prominenten. Wie zum Beispiel ein Spot für VW, zu dessen Beginn ein Golden Retriever im Hundetürchen stecken bleibt, sich dann vor dem Spiegel für zu dick befindet und schliesslich ein rigoroses Trainingsprogramm verfolgt, um abzunehmen und auf der Strasse erneut seinem Lieblingsauto, dem neuen „Käfer“, nachjagen zu können. Ähnlich wie bei Filmen liesse sich auch von der Super Bowl behaupten, es sei schade, wie oft die schöne Fernsehwerbung von Football unterbrochen werde.
Grenzen des Patriotismus
Aus der Menge mehr oder weniger origineller Spots stach diesmal eine Werbung für Chrysler heraus, in der Clint Eastwood, gefilmt wie „Dirty Harry“, in Anspielung auf die Super Bowl pathetisch Amerikas „zweite Halbzeit“ beschwor. Diese sollte die eher düstere erste Hälfte, die jüngere Vergangenheit, vergessen lassen. Umgehend warf Karl Rove, der frühere Chefberater von George W. Bush, dem jetzigen Präsidenten Verschleuderung von Steuergeldern vor, um für eine Privatfirma und letztlich für sich zu werben. Zwar trifft zu, dass der Autobauer seinerzeit nur dank Geldern aus Washington DC überleben konnte. Inzwischen aber hat Chrysler die Zuschüsse zurückbezahlt und ist seit 2011 erneut von der US-Regierung unabhängig.
Während die Wichtigkeit der Werbung während der Super Bowl noch zu wachsen scheint, schienen dieses Jahr zumindest dem Patriotismus Grenzen gesetzt. Der war früher, vor allem unmittelbar nach 9/11, gelegentlich überbordet. Obwohl natürlich auch am Sonntag der amerikanischen „boys“ in Übersee gedacht wurde. Nach dem Rückzug der USA aus dem Irak durften Marineinfanteristen im „Camp Leatherneck“ in Afghanistan am Bildschirm als heroische Staffage dienen. Und natürlich wurde auch in Indianapolis, wie vor jedem Spiel der NFL, die Nationalhymne gesungen. Was Kelly Clarkson angenehm schlicht tat, wobei – kein Anlass zu gering, um nicht daraus Profit zu schlagen – dem Vernehmen nach darauf gewettet werden konnte, innert welcher Zeit die Sängerin das „Star-Spangled Banner“ bewältigen würde. Im Schnitt schafft es Clarkson in 90 Sekunden.
Madonna tritt auf
Keine Spur von Schlichtheit zeigte dagegen Madonna in ihrem mit Spannung erwarteten Halbzeit-Auftritt. Es war eine 12-minütige Show, in deren Verlauf die 53-jährige Sängerin, begleitet von einem Heer von Komparsen und unterstützt von spektakulären Lichteffekten, mit viel Pomp einige ihrer grössten Hits zum Besten gab. Die Kritiken ihres Auftritts waren geteilt und reichten von „überragend“ bis zu „Ramsch“. Eine Bloggerin der „Washington Post“ stellte folgende „unbeantwortbare“ Frage: „Ist Madonna die einzige Frau der Welt, die imperial und nicht lächerlich aussieht, wenn sie sich voll als Wikingerin verkleidet, nervös einbeinige Yoga-Stellungen zeigt und sich bewegt wie König Tut, als würde er von Steve Martin gespielt?“
Ja, und Football gespielt wurde am Sonntag auch noch, und nicht einmal schlecht. In einer spannenden Partie besiegten die „New York Giants“ die leicht favorisierten „New England Patriots“ mit 21:17 dank eines kuriosen Touchdowns 58 Sekunden vor Schluss. Es war das Ende eines weiteren Kapitels in der erbitterten Rivalität zweier Ostküsten-Städte, deren Teams, wenn immer sie gegeneinander antreten, ähnlich starke Emotionen wecken wie hierzulande Fussballspiele zwischen Basel und Zürich. Aufgrund der Statistik hätten die „Patriots“ gewinnen müssen: Bei 20 Austragungen der Super Bowl zuvor hatte 17 Mal die Mannschaft jener Stadt gewonnen, deren Arbeitslosenrate tiefer lag.
Und woher kommt die Rapperin M.I.A.? Sie zeigte der Nation während der Halbzeit-Show in Indianapolis kurz den Stinkefinger, was prompt einen Mini-Skandal auslöste und dem zuständigen Fernsehsender NBC eine Busse eintragen dürfte. M.I.A. stammt weder aus Boston noch aus New York, sondern aus London. Ältere Fernsehzuschauer erinnerten sich an das Endspiel Anno 2004, als die Sängerin Janet Jackson während Sekundenbruchteilen unfreiwillig eine Brustwarze herzeigte. Der seinerzeit akribisch analysierte Zwischenfall ging als „wardrobe malfunction“ in die amerikanische TV-Geschichte ein. Die „Garderobenfehlfunktion“ kostete den Sender CBS vonseiten der nationalen Medienaufsichtsbehörde 550 000 Dollar Busse. Es geht nichts über die Super Bowl.
Quelle der Statistiken zur Super-Bowl: „The Independent“