Nach der Annexion der Krim setzte sich der russische Schriftsteller Michail Schischkin in einem ausführlichen Artikel (Cicero, 17.11.2014) mit dem „geschlossenen Kreis aus Lügen“ auseinander, der sich während der Sowjetzeit tief in die russische Gesellschaft eingegraben hatte. Der seit den 1990er Jahren in der Schweiz lebende Autor erinnerte sich an seine Kindheit, als das Buch „Gelsomino im Land der Lügner“, von einem Italiener verfasst, bei der russischen Jugend grossen Anklang fand. Alle im „Land der Lügner“ sind verpflichtet zu lügen. Begriffe haben komplett andere Bedeutungen, Brot ist nicht Brot, sondern Tinte, Katzen müssen bellen, Hunde miauen. Die Kinder fanden solches Durcheinanderwirbeln von Worten lustig, die Erwachsenen dagegen, so Schischkin, hätten genau verstanden, über welches Land hier tatsächlich geschrieben wurde.
Eine lange Tradition
Die Lüge zieht sich wie ein roter Faden durch Russlands sowjetische Vergangenheit. In gewisser Weise drängte sie sich den Machthabern geradezu auf, weil die beanspruchte Grossartigkeit und Überlegenheit ihres Systems, das die Menschheit von allen Übeln der Welt zu befreien versprach, mit der Realität nicht in Einklang zu bringen war. Besonders krass waren die Lügen in der Ära Stalin. Ein paar Beispiele:
Die Millionen von Toten während der Zwangskollektivierung zu Beginn der 1930er Jahre schrieb das Regime meteorologisch bedingten Missernten zu, tatsächlich aber handelte es sich um eine systematisch gesteuerte Hungersnot zwecks Vernichtung der Kulaken. In den Schauprozessen 1936/38 wurden die Angeklagten gezwungen, sich zu Verbrechen zu bekennen, deren „Konstruktion“ selbst den Anklägern bewusst war. Und fast ein halbes Jahrhundert hielt der Kreml an der so genannten Katyn-Lüge fest: 1940 ermordeten die Sowjets in der Gegend von Katyn rund 25’000 polnische Offiziere, Beamte und Intellektuelle. Stalin schob die Vernichtungsaktion der 1941 vorrückenden Wehrmacht in die Schuhe und liess zahlreiche Augenzeugen beseitigen.
Als unerlässliches und selbstverständlich gewordenes Hilfsmittel diente die Lüge auch den Politikern der Ära nach Stalin. Man schönte die Erfüllung der 5-Jahres-Pläne und pries, obwohl die Bürgerinnen und Bürger vor den Läden Schlange standen, die wirtschaftlichen Fortschritte in Richtung Arbeiterparadies. Selbst als 1986, zur Zeit von Gorbatschow und Glasnost, Block 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl explodierte, liess der Kreml die Bevölkerung während Tagen im Ungewissen und versuchte zu beschwichtigen: Alles halb so schlimm!
Die Mär von den „grünen Männchen“
Als mit der Sowjetunion manche althergebrachten Gewohnheiten untergingen, nahm, um es ironisch auszudrücken, die eine Gewohnheit keinen Schaden. Das hat seine Logik, sind doch die heutigen Figuren an der Spitze in den 1950er Jahren geboren, im Sowjetsystem sozialisiert und mit den Usanzen vertraut gemacht worden, insbesondere Putin selber, der eine Karriere als KGB-Offizier absolviert hat.
Also bedient man sich der Methode des Verwischens und Irreführens weiterhin, und das ausgiebig. Die „grünen Männchen“, die 2014 plötzlich auf der Krim auftauchten und sich dann halt doch als russische Militärangehörige herausstellten, sind in aller Erinnerung. Der Behauptung Moskaus, in den ostukrainischen Rebellengebieten seien keine russischen Soldaten und Waffen im Einsatz, mag kaum noch jemand Glauben schenken.
Höchst umstritten sind nach wie vor die Umstände, unter denen am 17. Juli 2014 über der Ukraine ein malaysisches Passagierflugzeug abgeschossen wurde (298 Tote). Obwohl die meisten Anzeichen dafür sprechen, dass Russland die Hände im Spiel hatte, bestreitet Moskau jede Urheberschaft. Seither sind immer wieder Berichte erschienen über unerklärlich verschwundene Rebellenführer, die etwas über die Hintergründe hätten aussagen können – was wiederum an die anlässlich des Katyn-Massenmordes praktizierten Methoden erinnert.
Parallelen gibt es auch zwischen den Hindernissen, die die russische Seite nach diesem Flugzeugabsturz einer internationalen Untersuchungskommission in den Weg legte, und den Behinderungen, auf die in diesen Tagen die OPCW-Inspektoren stossen, die den Giftgasangriff vom 7. April im syrischen Douma untersuchen sollten. Nimmt man die eigenartigen Verrenkungen Moskaus im Fall des Giftanschlags auf Vater und Tochter Skripal sowie die Leugnung des Dopings russischer Athleten bei den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotschi dazu, so kommt ein Paket zusammen, das die Respektbezeugung schwierig, wenn nicht unmöglich macht. Und das einen ratlos lässt darüber, was all die Quertreibereien sollen, wo man doch, wie behauptet, eine reine Weste hat.
Alle lügen
Zu sagen ist allerdings, dass praktisch jede Regierung das Instrument der Lüge einsetzt. Möglicherweise sind die Russen nicht einmal die „bösesten Buben“; die Amerikaner etwa dürften ihnen punkto Ausmass und Perfidie in dieser Disziplin ebenbürtig sein.
Im Unterschied zu Russland manifestieren sich aber in den USA eine kritische Zivilgesellschaft, eine Opposition, investigative Medien. Alle diese Akteure haben zwar die üblen Machenschaften der US-Regierung nicht verhindern können, aber sie haben – Stichworte Pentagon Papers, Watergate, Iran-Contra-Gate – manche üble Machenschaft aufgedeckt, was, dank ihres Echoraumes, Wirkung hatte.
Fazit: In offenen Gesellschaften wird auch gelogen, aber Lügen ist immerhin schwieriger als in einer „gelenkten Demokratie“ à la Putin. Dort gibt es neben den Staatsmedien keine Echoräume, niemand steht den Herrschenden unangenehm auf die Füsse. So lange das so bleibt, bleibt’s auch dabei: Brot ist Tinte.