Laut einer Umfrage stösst sich eine klare Mehrheit der Amerikaner nicht an den Machenschaften der National Security Agency (NSA), deren zwar legale, aber dubiose Aktivitäten im Bereich der Telefon- und Internetüberwachung der Londoner „Guardian“ und die „Washington Post“ enthüllt haben. Das sei, meint ein Blogger des britischen Blattes, eine seltsam unaufgeregte und milde Reaktion für ein Land, das sich sonst gern und oft seiner Verfassung und der darin garantierten Rechte rühme. Zum Beispiel, wenn es darum geht, den Verkauf von Schusswaffen strikter zu regulieren.
Die USA, so der Blog, zeigten nicht jene Haltung, die es der Nation erlaubt habe, „das Joch einer Kolonialmacht abzuwerfen, einen jungfräulichen Kontinent zu erobern, einen Industriegiganten aufzubauen, die Nazis und die Japaner zu besiegen sowie einen Mann auf den Mond zu schiessen“. Ein möglicher Grund für die Zurückhaltung? Hollywood. Filme und Fernsehserien aus L.A. würden die Amerikaner seit Jahren weichklopfen, „alle von uns mit der Einsicht beglückend, dass sämtliche unserer Bewegungen und Gespräche, unserer Aufenthaltsorte, Routinen und Konsumgewohnheiten einsehbar oder käuflich sind durch Dritte, deren Motive wir nicht kennen.“
Nicht illegal
Doch gemach, so die Botschaft Hollywoods, unterschwellig sei alles OK, am Ende würden jeweils die Guten gewinnen. Dieser Logik scheinen auch Amerikas Leitmedien zu folgen, deren Reaktionen auf die Enthüllungen über die NSA bisher mehrheitlich staatstragend, d.h. verhalten und verständnisvoll aufgefallen sind. Nicht selten betonen die Medien, dass sich der Geheimdienst in dieser Sache nicht illegal verhalten habe, weil der Kongress den umstrittenen Programmen seinerzeit zugestimmt habe.
Zum einen in Abschnitt 215 des „Patriot Act“ aus dem Jahre 2001, der es den Behörden erleichtert, Geschäftsunterlagen einzufordern, falls sie das aus Gründen der nationalen Sicherheit für nötig halten. Zum andern laut Abschnitt 702 des „FISA Amendment Act“ von 2008, der es der amerikanischen Regierung erlaubt, von einem für nationale Sicherheit zuständigen Gericht die Erlaubnis einzuholen, jemanden nahtlos zu überwachen, von dem mit gutem Grund anzunehmen ist, dass er sich ausserhalb der USA befindet.
Warum der "Guardian"?
Dazu braucht es lediglich eine 51-prozentige Überzeugung der Zuständigen, dass das Ziel der Überwachung Ausländer sei – ein auf „vernünftigem Glauben“ basierendes Kriterium, das den Fernsehsatirikern der „Daily Show“ auf Comedy Central hämische Kommentare entlockte: Welches eine Prozent unterscheidet einen Amerikaner von einem Ausländer? Beide Gesetze, „Patriot Act“ wie „FISA Amendment Act“, schützen im Übrigen kooperierende Firmen vor Zivilklagen.
In ihrer sonntäglichen Kolumne zeigte sich Margaret Sullivan, „Public Editor“ (d.h. Ombudsfrau) der „New York Times“, verwundert, dass Edward Snowden, der 29-jährige Computerexperte hinter den brisanten NSA-Enthüllungen, sein Material nicht ihrer Zeitung, sondern dem „Guardian“ sowie der Konkurrenz in Washington angeboten hatte. Sullivan reagierte auf die Frage eines Lesers, der sich erkundigte, warum sich die „Times“, falls ihr die Unterlagen ebenfalls zugespielt worden waren, gegen eine Publikation entschieden hätte. Sie beruhigte den Leser, Snowden habe keinen Kontakt zur Redaktion gehabt.
"Das nächste Boston verhindern"?
Einen möglichen Grund dafür sah die Kolumnistin darin, dass die „New York Times“ Mitte des vergangenen Jahrzehnts auf Drängen der Regierung von George W. Bush mit der Veröffentlichung einer Story über die NSA über ein Jahr lang zugewartet hatte. Zwei Reporter der „Times“ enthüllten damals nach intensiven Recherchen, dass der Geheimdienst ohne gesetzliche Grundlage amerikanische Bürger abhöre – eine Geschichte, die den beiden Journalisten einen „Pulitzer“-Preis eintrug.
Mutmasslich, so Sullivan, habe der Informant angesichts anderer Optionen nicht erneut eine so lange Verzögerung in Kauf nehmen wollen. Eindringlich zerpflückte indes „Times“-Kolumnistin Gail Collins am Wochenende das Argument, eine Publikation der NSA-Enthüllungen gefährde Amerikas Sicherheit. Der Chef des Geheimdienstes, General Keith Alexander, hatte argumentiert, dank der Telefonüberwachung der NSA seien womöglich „Dutzende“ von Terroranschlägen vereitelt worden, und FBI-Direktor Robert Mueller liess wissen, die Überwachung könne „das nächste Boston“ verhindern.
"Im Interesse der nationalen Sicherheit
Dass sich mit der Zunahme der Überwachung aller Wahrscheinlichkeit nach auch Fehler häufen, erwähnte weder der NSA-Chef noch der FBI-Direktor. Collins erinnerte deshalb an den Fall des Juristen Brandon Mayfield aus Kansas, der 2004 nach den Terroranschlägen al-Qaidas in Madrid ins Visier des FBI geraten war.
Die Bundespolizei hatte einen am Tatort auf einer Plastiktasche entdeckten Fingerabdruck irrtümlich als jenen Mayfields identifiziert und gegen ihn mit aller Macht zu ermitteln begonnen. Die Agenten fühlten sich bestärkt durch den Umstand, dass Mayfield eine Muslimin geheiratet hatte und zum Islam konvertiert war.
Schliesslich verhaftete das FBI den Juristen am Arbeitsplatz, führte ihn in Handschellen ab und steckte ihn zum Entsetzen seiner Familie für zwei Wochen ins Gefängnis, obwohl die Ermittler in Spanien von Anfang an seine Schuld bezweifelten und schliesslich den wahren Täter festnahmen. Brandon Mayfield kam frei, erhielt ein Schmerzensgeld von zwei Millionen Dollar und eine Entschuldigung der Regierung für angetanes Unrecht. Das Urteil eines Bundesrichters, wonach die Erlaubnis geheimer Hausdurchsuchungen aufgrund des Patriot Act gegen die Verfassung verstosse, hob eine Berufungsinstanz in der Folge eines Formfehlers wegen auf. Übrigens: Unter 1856 Gesuchen seitens von Ermittlern, die Privatsphäre von Terrorverdächtigen verletzen zu dürfen, haben die zuständigen Richter im vergangenen Jahr im Geheimen alle 1856 Anträge gut geheissen – immer „im Interesse der nationalen Sicherheit“.
"Unverhältnismässiger Einfluss" der Geheimdienste
Währenddessen kritisiert Autor John le Carré im „Guardian“ die Existenz geheimer Gerichte, die der Öffentlichkeit keine Rechenschaft schuldig sind. Ausser dem Wunsch, dem Staat peinliche Enthüllungen seiner Fehler und Missetaten zu ersparen, sieht Le Carré zwei Gründe für die Existenz solcher Institutionen.
Zum einen nennt er den „unverhältnismässigen Einfluss“ amerikanischer und britischer Geheimdienste auf die demokratischen Institutionen ihrer Länder. Zum andern ortet der Autor den Wunsch beider politischen Establishments, einen Geheimstaat à la George W. Bush nach Grossbritannien zu importieren.
Statt den nach 9/11 errichteten Sicherheitsstaat mit über einer Million Geheimnisträgern abzubauen, habe Barack Obama ihn sorgfältig modifiziert und ausgebaut: „Als Folge davon ist die CIA zu einer ausgewachsenen Streitkraft gewachsen, die niemandem Rechenschaft schuldet, sich ausserrechtlicher Tötungen und Aktivitäten bedient, aber das mühsame Sammeln relevanter Informationen vernachlässigt, dessen sich die Briten seit jeher gerne rühmen.“ Da sich die Vergangenheit aber nicht einfach unter den Teppich kehren lasse, sei es Aufgabe von Geheimgerichten, die illegalen Aktivitäten der CIA und die Helferrolle Grossbritanniens zu vertuschen.
Mythos der Geheimdienste
Höchste Zeit für gutgläubige Politiker, fordert John le Carré, sich auf ihre Pflichten als Volksvertreter zu besinnen und die Aufsicht über die Geheimdienste an die Hand zu nehmen. „Wir wissen viel über die Schwächen unserer Politiker. Dagegen wissen wir fast nichts über unsere Geheimdienste, und so muss es anscheinend sein und so lieben es die Geheimdienste“, schreibt der Autor: „Aber wer immer sie sind und wer immer sie zu sein glauben, es würde mich überraschen, wenn sie ihre Organisationen nicht für dieselben Pannen, Vertuschungen und Ausbrüche von Fast-Wahnsinn anfällig wären wie derzeit jede andere grössere britische Institution, von den Banken über die Presse und den nationalen Gesundheitsdienst bis hin zur BBC.“
Politiker, mahnt Le Carré, dürften sich nicht vom sorgfältig gepflegten Mythos der Geheimdienste verführen lassen, zu dem wohl auch er, wie er reumütig eingesteht, das Seine beigetragen habe: „Ihre Macht über dich liegt darin, dass sie dich ein wenig wissen lassen, und andeuten, sie wüssten eine Menge mehr. Auch indem sie dich an die Risiken erinnern, mit denen sie Tag und Nacht ringen müssen, während du friedlich schläfst. Du musst uns vertrauen, sagen sie, oder sonst bezahlst du den Preis, wenn mitten auf dem Markt die Bombe hochgeht. Und, keine Frage, manchmal haben sie sogar Recht.“
Schutz der Privatsphäre sekundär
Ähnlich prägnant wie John le Carré hat sich bisher in den USA kaum eine öffentliche Figur geäussert, auf jeden Fall kein prominenter liberaler Politiker oder Medienvertreter. Gemäss einer Umfrage der „Washington Post“ und des Pew Research Center finden 69 Prozent der Demokraten, dass bei Ermittlungen wegen terroristischer Aktivitäten der Schutz der Privatsphäre sekundär sei.
Als 2005 das geheime Abhörprogramm der Regierung Bush aufgedeckt wurde, hatten lediglich 37 Prozent aller Demokraten die Aktivitäten der NSA befürwortet. Heute tun es 64 Prozent. Es sei stossend, schreibt Kolumnist Dana Milbank in der „Washington Post“, dass sich die Linke heute so duldsam zeige, nachdem die Überwachung von einem demokratischen Präsidenten sanktioniert worden sei: „Selbst falls sich herausstellt, dass diese Programme vertretbar sind, lohnt es sich nicht, herauszufinden, was genau sie bezwecken, bevor Liberale eine Aufhebung von Bürgerrechten gutheissen, die sie eines Tages bedauern könnten?“
Auch Richard A. Clarke, der im Weissen Haus drei amerikanische Präsidenten bei der Terrorbekämpfung beraten hat, plädiert dafür, die jüngsten Aktivitäten der NSA schonungslos aufzudecken – allen Geheimhaltungsargumenten zum Trotz. „Die Begründung, wonach dieses aufwändige Sammeln von Daten vor den Terroristen geheim gehalten werden muss, ist lächerlich“, schreibt Clarke in der “Daily News“ in New York: „Terroristen gehen schon heute davon aus, dass das geschieht. Nur gesetztestreue amerikanische Bürger wussten in süsser Wonne nicht, was ihre Regierung tat.“
Quellen: „The New York Times“; „The Washington Post“; „The Guardian“; „The Daily Beast“; “Vanity Fair”