Der 70-jährige Robert («Bob») Gates ist ein eingefleischter Washington-Insider. Von Haus aus Republikaner, hat er unter mehreren Präsidenten in unterschiedlichen Funktionen gedient, unter anderem von 1991-93 als Chef der CIA. Er wurde 2006, als Nachfolger des umstrittenen Donald Rumsfeld, Chef des Pentagons unter George W. Bush und blieb dort zwei Jahre später nach Barack Obamas Amtsantritt als einziger Vertreter der Grand Old Party (GOP) in einem demokratischen Kabinett. Er wurde allgemein respektiert, galt als diskret, fähig und loyal, war ein treuer Dieser seines Herrn und der Nation.
Das Ritual des Memoirenschreibens
Wie fast alle politischen Grössen in Washington DC sah sich auch Bob Gates genötigt, nach dem Verlassen seines Postens Memoiren zu schreiben. Colin Powell tat es, ebenso Donald Rumsfeld, Condoleezza Rice schrieb welche, diejenigen Hillary Clintons sind in Arbeit. Das Memoirenschreiben ist nicht nur lukrativ, es erlaubt einem Autor auch, seine Sicht der Dinge dazulegen und die Geschichte leicht zu korrigieren, bevor sich Historiker unbestechlichen Blickes über die Akten beugen.
Zwar finden solche Werke meist mehr Käufer als Leser, eignen sie sich doch hervorragend als Geschenk für gestresste Zeitgenossen. Wobei, wie auch in diesem Fall, den Medien Vorausexemplare zugestellt werden, auf dass sie jenen schwer definierbaren «Buzz» kreieren, der einem Buch überdurchschnittliches Aufsehen beschert, am liebsten, da mit der grössten Reichweite, in den politischen Talkshows des Fernsehens.
Angesichts des begrenzten Fassungsvermögens des Publikums stürzen sich die Rezensenten meist auf vier oder fünf Kernaussagen des Werkes, wobei diese nach allen Regeln der Kunst seziert und interpretiert werden. Gut gefällt es den Kritikern, wenn andere mächtige Player in Washington DC ihr Fett abkriegen, am liebsten der Präsident, vielleicht sogar die First Lady, mindestens aber andere Granden im Weissen Haus oder im Kongress, unter denen der eine oder andere einst in seinen Memoiren selbst zurückschiessen wird.
Künstliche Aufregung der Medien
Noch ist Robert Gates‘ 594-seitiges Opus nicht erschienen. «Duty: Memoirs of a Secretary at War» kommt erst am 14. Januar in die Buchläden. Bereits aber ist in Washington nach ersten Rezensionen die Aufregung gross, da der Auto es gewagt hat, Präsident Barack Obama, Vizepräsident Joe Biden und hochrangigen Mitarbeitenden des Weissen Hauses an den Karren zu fahren. Und alle tun sie so, als wäre es News, dass es zwischen dem republikanischen Verteidigungsminister und Barack Obamas von Arroganz nicht unbeleckten Untergebenen Differenzen gegeben hat, was die Politik des Pentagon und Amerikas Strategie in Afghanistan betrifft. Ja, von regelrechten Spannungen ist die Rede, als gehörten solche nicht zum Politalltag in Washington DC, wo nicht heftige Streitigkeiten, sondern seltene Kompromisse zu reden geben.
Robert Gates‘ Memoiren würden «harsche Kritik an Obamas Führung» äussern, titelt Bob Woodward, seit Watergate eine Ikone des Journalismus, seine Rezension in der «Washington Post». Gates äussere einen der schwersten Vorwürfe, den ein US-Verteidigungsminister gegenüber einem Commander-in-Chief machen könne, der Truppen in den Krieg schickt. Barack Obama, so der frühere Pentagon-Chef, habe seiner eigenen Strategie nicht getraut, als er 30‘000 Soldaten zusätzlich nach Afghanistan entsandte, um das Land zu stabilisieren, bevor Mitte 2011 Amerikas Truppenabzug in Raten begann. Er sei Anfang 2010 zum Schluss gekommen, dass der Präsident den Krieg nicht als den seinen betrachte: «Für ihn ging es nur darum, da rauszukommen.» Im Gegensatz zur willkürlichen Invasion des Iraks hat Barack Obama die Operation in Afghanistan, die als Reaktion auf den Terror des 11. September erfolgte, stets als notwendig erachtet.
Benotung Hillary Clintons: positiv mit Einschränkung
Für die Vergiftung des Klimas zwischen Pentagon und Weissem Haus macht Bob Gates nicht zuletzt Vizepräsident Joe Biden verantwortlich. Biden, so der Ex-Verteidigungsminister, sei zwar «ein integrer Mann, habe sich in den vergangenen vier Jahrzehnten seines Erachtens aber fast jedesmal geirrt, wenn es um grosse aussen- oder sicherheitspolitische Fragen ging. Dagegen kommt Hillary Clinton, die Aussenministerin war, als Gates das Pentagon lenkte, in «Duty» ungleich besser weg: «Ich erlebte sie als smart, als idealistisch, aber pragmatisch, als hartnäckig, unermüdlich und unterhaltsam, als eine äusserst wertvolle Kollegin und als hervorragende Vertreterin der USA auf der ganzen Welt.»
Robert Gates verzeiht Hillary Clinton jedoch nicht, dass sie zugegeben hat, sich 2008 im demokratischen Vorwahlkampf gegen Barack Obama nur aus Gründen der politischen Opportunität gegen eine Verstärkung der US-Truppen im Irak ausgesprochen zu haben: «Hillary gestand dem Präsidenten, ihr Widerstand gegen den ‚surge‘ im Irak sei politisch gewesen, weil die Vorwahlen in Iowa bevorstanden (…) Der Präsident räumte vage ein, auch seine Opposition (…) sei politisch motiviert gewesen. Den beiden zuzuhören, wie sie das (anlässlich einer Sitzung im Weissen Haus, d. Red.) in meiner Gegenwart zugaben, überraschte und verärgerte mich gleichzeitig.» Bereits unken politische Auguren, dieses Eingeständnis von Opportunismus könnte Clinton schaden, falls sie sich entschliesst, 2016 für die Präsidentschaft zu kandidieren.
Der Autor von «Duty» kritisiert aber auch den Kongress und dessen Unfähigkeit, Kompromisse zum Wohle der Nation zu finden: «Ich hörte mit wachsendem Zorn zu, wie heuchlerische und unsensible Senatoren ihre Forderungen an die Adresse irakischer Volksvertreter richteten und dabei nicht einmal selbst im Stande waren, ein Budget zu verabschieden.» Einzelne Mitglieder des aussenpolitischen Ausschusses im Abgeordnetenhaus nennt Gates gar «grob, böse und blöd».
Volle Identifikation mit dem Militär
Bob Gates‘ Probleme mit den Zivilisten im Weissen Haus könnten dem Umstand zuzuschreiben sein, dass der frühere Offizier des Nachrichtendienstes der Air Force ein äusserst engagierter Verteidigungsminister war. Und zwar einer, dem es weniger um die eigene Karriere als um die Menschen ging, die ihm unterstanden. Das ist zumindest die These von Greg Jaffe, der während Jahren für die «Washington Post» aus dem Pentagon berichtet hat. Der Reporter beschreibt, wie Gates, proper frisiert und gekleidet, im Dezember2010 bei einem Truppenbesuch in den Bergen Afghanistans von starken Emotionen übermannt wurde.
«Ich fühle mich für jeden und jede von euch persönlich verantwortlich», sagte Gates vor den Soldatinnen und Soldaten in ihren dreckverschmierten Kampfanzügen. «Ich fühle eure Opfer, eure Schwierigkeiten und eure Verluste stärker, als ihr euch je vorstellen könnt. Ich will euch nur danken und sagen, wie sehr ich euch liebe.» Unvorstellbar, meint Jaffe, dass frühere US-Verteidigungsminister wie Robert McNamara (unter Kennedy), Dick Cheney (unter Bush Sr.) oder Donald Rumsfeld (unter Bush Jr.) je sowas offenbart hätten.
Unter anderem hatte Robert Gates – zum Teil gegen den Widerstand seiner Generäle – durchgesetzt, dass die US-Streitkräfte statt anderen Materials Fahrzeuge kauften, die gegen Minenexplosionen resistent waren. Der Air Force befahl er, statt neue Kampfjets mehr Überwachungsdrohnen für den Einsatz im Irak und in Afghanistan zu beschaffen. Und er verfügte über die Köpfe von Offizieren und Feldärzten hinweg, dass Verwundete in Afghanistan innert einer Stunde in einem Lazarett Pflege zu erhalten hatten. Den Ärzten zufolge hätten zwei Stunden genügt.
Bob Gates, während dessen Amtszeit im Irak und in Afghanistan 3’800 Soldaten und Marineinfanteristen starben, hat denn auch bereits verlauten lassen, er wünsche dereinst auf dem Soldatenfriedhof in Arlington begraben zu werden und zwar in «Section 60», jenem Abschnitt des 252 Hektaren grossen Areals am Potomac, wo die Toten der beiden Kriege ruhen: «Es wäre für mich die grösstmögliche Ehre, unter meinen Helden zu ruhen bis in alle Ewigkeit.»
Ex-Politiker in der Komfortzone
Derweil hat in Washington DC ein anderes altes Ritual begonnen: Der Autor, dessen unter Umständen schädlichen Aussagen die «Spin Doctors» nicht direkt widersprochen können, wird mit Nettigkeiten eingedeckt. «Barack Obama schätzt Bob Gates‘ Dienst an der Nation zutiefst», hat eine Sprecherin des Weissen Hauses verlauten lassen. Der Präsident begrüsse Meinungsdifferenzen innerhalb seines für die nationale Sicherheit zuständigen Teams, «die seinen Entscheidungsspielraum vergrössern und unsere Politik verbessern.» Und Mr. Obama wünsche Gates, der unlängst zu Hause gestürzt ist und einen Wirbel gebrochen hat, gute Besserung.
Einer weitern lokalen Gepflogenheit folgend, hat Dr. Robert Gates, der das Pentagon Mitte 2011 verliess, durch die sprichwörtliche Drehtür («Revolving Door») von der Politik in die Privatwirtschaft gewechselt. Er ist heute, zusammen mit Ex-Aussenministerin Condoleezza Rice und Alt-Sicherheitsberater Stephen Hadley, Partner der internationalen Beratungsfirma «RiceHadleyGates LLC» mit Büros im Silicon Valley und in Washington DC. Seit vergangenem September ist er zudem gewählter Präsident der amerikanischen Pfadfinder.
Seinem früheren Amt dürfte der Slawist und Historiker keine Träne nachweinen. «Die Leute haben keine Vorstellung davon, wie ich diesen Job hasse», hat er wenige Tage vor der Amtseinsetzung Barack Obamas am 20. Januar 2009, d.h. mehr als zwei Jahre vor seinem Rücktritt, einem Freund per E-Mail anvertraut. Bob Gates, schliesst ein Rezensent, sei selber nicht frei von Widersprüchen.
Quellen: The Washington Post, The New York Times, The Los Angeles Times, The Wall Street Journal, The Guardian