Die Nato trifft im Moment verschiedene Abwehrmassnahmen in Ost- und Nordeuropa. Da fand einmal das Manöver „Anaconda“ statt, an dem 30'000 Soldaten teilnahmen. Ziel war es, die polnische Armee besser in multilaterale Sicherheitszusammenarbeit einzugliedern. Während diesen Manövertagen fand ein Nato-Gipfel in Warschau statt, an dem Staats- und/oder Ministerpräsidenten zum ersten Mal seit dem Ende des Kalten Krieges die Stationierung von Nato-Truppen in Osteuropa beschlossen haben. Entlang der gesamten EU-Ostgrenze – mit Schwerpunkt in Polen und den baltischen Staaten – sollen wechselnde Truppenkonzentrationen stattfinden.
Dies ist erstens vor dem Hintergrund der russischen Aggression auf der Krim und in der Ost-Ukraine zu sehen. Zweitens ist es eine Bestätigung, dass sich Grossbritannien trotz Brexit weiterhin gesamteuropäischer Sicherheit verpflichtet fühlt.
Bekenntnis nordatlantischer Solidarität
Gleichzeitig hat das nordatlantische Bündnis stillschweigend bekräftigt, dass eine Mitgliedschaft weder für die Ukraine noch für Georgien ansteht, welche beide in bilaterale und „heisse“ Grenzkonflikte mit Russland verwickelt sind.
Die Frontstellung der Nato ist weitaus komplexer als auf den ersten Blick sichtbar. Einerseits geben sich die an Russland angrenzenden Frontstaaten zufrieden mit diesem klaren Bekenntnis nordatlantischer Solidarität. Polen – und die Balten ohnehin – , aber auch die früheren Neutralen und damit Nicht-Nato-Mitglieder Schweden und Finnland haben sich an „Anaconda“ beteiligt. Sie alle sind besorgt über den russischen Expansionsdrang und den aktuellen „Putinismus“.
„Imperialistischer Brückenkopf“ der USA
Deutschland, Frankreich und Grossbritannien haben ein unterschiedliches Verhältnis zur Nato. Die deutsche Bundeskanzlerin hat sich den klaren Warnungen an die Adresse des Kremls angeschlossen. Gleichzeitig aber hat sich Deutschland an den „Anaconda“-Manövern nur zögerlich beteiligt. Merkels Koalitionspartnerin, die SPD, hat zudem die Manöver als „Säbelgerassel“ abgetan. Einmal mehr also treten die seit dem Kalten Krieg bekannten sicherheitspolitischen Differenzen zwischen CDU/CSU und SPD zutage.
Das Nato-Mitglied Frankreich trägt die Gipfelbeschlüsse zwar mit, hat aber „Anaconda“ praktisch ignoriert, um seine Wirtschaftskreise in Moskau nicht zu verschrecken. Wie in zahlreichen andern europäischen Ländern, jedenfalls auf der linken Seite des politischen Spektrums, ist dort das Bild der Nato als „imperialistischer Brückenkopf“ der USA in Europa noch durchaus lebendig.
Krisenbedingte Kurzsichtigkeit
In Grossbritannien gilt dies kaum, aber seit der Abstimmung vom 23. Juni sind auch Nato-relevante Punkte in den Mittelpunkt gerückt. Falls mittelfristig Schottland aus dem UK austritt, gehen zentrale Strukturen des britischen Verteidigungsdispositivs verloren.
Am anderen Ende der europäischen Nato-Skala stehen die Staaten Südeuropas. Ihre Wirtschafts-, Finanz- und Strukturprobleme beschäftigen sie derart, dass sie Russland in krisenbedingter Kurzsichtigkeit primär als Handels- und Wirtschaftsoption wahrnehmen.
Zunehmend isolationistische Stimmung
Am stärksten haben sich die USA gegenüber der Nato gewandelt. Im 21. und asiatischen Jahrhundert werden sich die USA strategisch in erster Linie mit dem asiatisch-pazifischen Raum befassen. Daher der vielzitierte, von Obama eingeleitete „pivot to Asia“, welcher China von zu unbändiger Expansion abhalten will. Nach den Kriegen in Afghanistan und im Irak, die die Mehrheit der Amerikaner als verloren betrachten, wird der neue amerikanische Präsident oder die neue Präsidentin gegen eine zunehmend isolationistische Stimmung im Land Aussenpolitik betreiben müssen.
Angesichts all dieser Widersprüchlichkeiten innerhalb der Nato wird die EU kaum von der sicherheitspolitisch-strategischen Bühne verschwinden. Sie ersetzt diese nicht, aber ergänzt sie.
Aufgabenteilung
Mittelfristig wird es zu einer gewissen Aufgabenteilung kommen. Geografisch könnte das dann so aussehen, dass im Osten, wo unmittelbar globalstrategische Interessen anstehen – Russland ist ja auch eine asiatisch-pazifische Macht – die Nato die sicherheitspolitische Stabführung behalten wird. Die EU wird demgegenüber auf ihrer Südflanke, vom Mittleren Osten über den Maghreb bis nach Schwarzafrika mehr für die Sicherheit unseres Kontinentes tun müssen.