Aus zwei Gründen hat der türkische Präsident Erdogan eben die EU erpressen können. Weil Europa, nicht nur die EU, an der Schengen-Grenze auf türkische Mithilfe bei der Konsolidierung der Migrantionswelle im Südosten Europas zwingend angewiesen ist. Und weil ohne dieTürkei der Bürgerkrieg in Syrien weder militärisch noch politisch beendet werden kann.
Forderungen von der “Hohen Pforte”
Dies hat sich der konservativ-islamische Autokrat Erdogan zunutze gemacht, um von ‘Brüssel’ erstens sehr viel Geld, zweitens die Aussicht auf Visafreiheit für Türken in Europa und drittens eine Wiederaufnahme von Beitrittsverhandlungen zu erpressen. Während finanzielle Unterstützung an türkische Anstrengungen zur Unterbringung syrischer Flüchtlinge gerechtfertigt erscheint, ist Visafreiheit ein ausserordentlich schwieriges Unterfangen, ein EU-Beitritt der Türkei, zumal von Erdogan geführt, praktisch eine Unmöglichkeit.
Das weiss auch der konservative Sunni Erdogan. Aber er will seinen Mitbürgern zeigen, dass auch noch heute ein mächtiger Sultan dank seiner Position an der Hohen Pforte und mit Verweis auf vermeintlich eherne nationale Intressen die ungläubigen Europäer in die Knie zwingen kann.
Die EU-Problemberge
Die türkische Erpressung ist ja nur eines der grossen aktuellen Probleme Europas. Die Wirtschaftserholung in grossen Teilen des Kontinents verläuft schleppend. Die griechische Regierung weigert sich mit Hinweis auf ihre nationalen Extrawürste (Grenzschutz nur durch Griechen, historischer Unsinn gegenüber dem Nachbarn Mazedonien), dringend nötigen europäischen Beistand zum Schutz der Schengengrenze anzunehmen. Cameron stellt Forderungen für das weitere Verbleiben Grossbritanniens, welche EU-Grundlagen in Frage stellen. Und für dringend nötige Reformen zur Vervollständigung der Währungs- und Fiskalunion fehlen Zeit Mittel und Energie.
Die gefährlichste Entwicklung jedoch, man denke nur an historische Erfahrungen, ist die Erstarkung und Radikalisierung von rechts-, teilweise auch von links-nationalistischen Parteien, welche sich die Verunsicherung nach Terroranschlägen sowie wachsende wirtschaftliche Ungleichheit zunutze machen. So wie soeben die dänische SVP, welche eine Abstimmung über technische Verbesserungen polizeilichen Schutzes der dänischen Bevölkerung unter europäischem Dach zur Souveränitätsfrage hinaufstilisierte.
Eine Schweizer Extrawurst?
So auch die schweizerische SVP mit ihrer Masseneinwanderungs-Initiative vom 9. Februar 2014, als sie einen guten Teil der Bevölkerung im vermeintlichen Kampf gegen ‘Überfremdung’ und ‘Überbevölkerung’ dazu mobilisieren konnte, unwissend die Axt an die Wurzeln der bilateralen Übereinkommen mit der EU zu legen. Seither wankt ein Hauptpfeiler der schweizerischen Wirtschaft, nämlich die Zuwanderung von Arbeitskräften und der Import von Know-how aus dem übrigen Europa. Der Wegfall dieses Pfeilers wäre,wie dies aktuelle wissenschaftliche Studien beweisen, von beträchtlichen Wohlstandseinbussen begleitet. Diese würden insbesondere die arbeitende Bevölkerung der Schweiz treffen in Industrie, Ausbildung, Tourismus und alllgemein in Betrieben, welche in die heute selbstverstänlichen internationalen Wertschöpfungsketten eingebunden sind.
Am 9. Februar 2014 fiel eine falschen Entscheidung. Das Volk hat zwar letztlich immer recht, aber es täuscht sich manchmal vorher. Wiederholte Abstimmungen zur Korrektur solcher Fehler sind möglich, und es gab sie schon öfter. Fast zwei Jahre nach diesem Datum kommt nun die Schweiz nach Brüssel, ausgerechnet zum Zeitpunkt der dargestellten ausgeprägten Krisenlage, und fordert ihre eigene Extrawurst ein. Dies in Form einer allfälligen Beschränkung europäischer Binnenwanderung, was eindeutig die europäische Personenfreizügigkeit verletzte.
Helvetische und Brüsseler Perspektive
Voraussichtlich wird die EU diese Zumutung zurückweisen, aus grundsätzlichen Überlegungen und wegen Präzedenzgefahr anderswo. Nicht auszuschliessen ist andererseits, dass gerade die nächsten Nachbarn, welche zahlreiche Grenzgänger, damit auch Wähler, in die Schweiz schicken, mit Blick auf die erwähnten Hauptprobleme dieses kleinere Zusatzproblem mit einem Kompromiss auf Zeit entschärfen möchten.
Nicht ganz so krude wie die Türkei, aber ein klares Ausnützen einer europäischen Notlage, was nichts mit ‘geschickter Verhandlungsführung’ und noch weniger mit ‘aufrechtem Gang’ zu tun hat. So entfernt sich vielmehr die offizielle Schweiz von ihrem gewohnten Standard als berechenbares europäisches Kernland. Was von uns als unabänderlicher Verfassungsauftrag hingestellt wird, sieht in europäischer Perspektive aus als lediglich ein weiterer unnötiger Versuch unbelehrbarer Nationalisten, Fortschritt für letztlich alle Europäer rückgängig zu machen.