Zwei Jahre lang posaunte Berlusconi ins Land hinaus, wie gut es Italien gehe. „Viel besser als allen andern“ doppelte Wirtschaftsminister Tremonti nach. „Die Banken sind solide, die Wirtschaft ist gesund“, sagte Tremonti. Vor kurzem rief Berlusconi aus: „In Italien ist die Krise schon vorbei. Wir haben sie viel besser überwunden als die andern“.
„E la nave va“, sagte Berlusconi in Anlehnung an einen Film von Fellini. „Das Schiff fährt weiter“. Wir haben es geschafft.
Und jetzt dies. Gestern Donnerstag erwähnte Wirtschaftsminister Tremonti ein anderes Schiff: die Titanic. „Die Politik darf jetzt keine Fehler machen“, sagte er im Senat. Denn „wir alle sind auf der Titanic. Auch die Passagiere in der ersten Klasse werden nicht gerettet“.
Der Vergleich mit der Titanic provozierte die linksliberale „La Repubblica“ zu einem bissigen Kommentar. „Jemand wird den Italienern erklären müssen, weshalb wir von heute auf morgen von Berlusconis ‚La nave va‘ zu Tremontis Titanic gekommen sind. Jemand wird uns erklären müssen, weshalb wir in wenigen Stunden von Berlusconis ‚die Krise ist vorbei‘ zu Tremontis ‚wir riskieren unsere Zukunft zu zerstören“ gelangt sind.
“Zuerst überleben, dann leben“
Damit diese Zukunft nicht zerstört wird, hat Tremonti in Windeseile ein riesiges Sparpaket ausgearbeitet: 79 Milliarden Euro sollen in den nächsten dreieinhalb Jahren gespart werden. Beschleunigt wurde der plötzliche Spareifer, nachdem Italien in den letzten Tagen schweren spekulativen Angriffen ausgesetzt war. Auch die EU machte Druck auf das Belpaese.
Nach Griechenland hat Italien den höchsten Schuldenstand in der Euro-Zone. Die Staatsverschuldung wird in diesem Jahr bei 120,6 Prozent des Bruttoinlandproduktes liegen. Vielen Italienern, die sich monatelang von Berlusconi einlullen liessen, fällt es jetzt wie Schuppen von den Augen: Es geht ums Überleben. „Zuerst überleben, dann leben“, sagte Tremonti und erzeugte damit Furcht und Gänsehaut.
Damit Italien überleben kann, hat die italienische Abgeordnetenkammer am Freitagabend mit 314 zu 280 Stimmen das Sparpaket gutgeheissen. Schon am Tag zuvor sprach sich die kleine Kammer, der Senat, mit 161 zu 135 Stimmen für die Vorlage aus. Berlusconi hatte die Abstimmung wieder einmal mit einem Vertrauensvotum verknüpfen müssen. So konnte er fast sicher sein, dass sie angenommen würde.
“Wir stimmen dafür, aber wir sind dagegen“
Plötzlich, für einen Moment, schienen die Streitereien zwischen den Parteien überwunden zu sein. „Jetzt geht es um Italien“ schrieben Kommentatoren, „um seine Ehre, seine Kraft, seinen Stolz – vergessen wir für einmal die Polemik, retten wir das Land“. Staatspräsident Giorgio Napolitano rief in diesen schweren Stunden zum Schulterschluss auf. Nach der Abstimmung sagte er, das Resultat sei „ein aussergewöhnlicher Beweis nationaler Kohäsion“.
Tremonti, der sonst mit der Linken wenig zimperlich umgeht, findet plötzlich versöhnliche Worte. „Natürlich sind wir verschieden, aber heute sind wir nicht allzu uneinig. Deshalb bin ich stolz, hier zu sein“. Worte, die nach seinen sonst wüsten Attacken etwas seltsam wirken.
Gianni Letta, Staatssekretär und enger Verbündeter des Ministerpräsidenten, hat Berlusconi dazu verdonnert, 36 Stunden lang den Mund zu halten. Denn provokative Ausfälle, wie man sie sich von ihm gewohnt ist, könnten die Opposition im letzten Moment erzürnen.
Die linke Opposition befindet sich in einer unangenehmen Zwickmühle. Einerseits kann sie das Sparpaket nicht gutheissen, denn es schröpft einmal mehr vor allem die wenig Begüterten. Anderseits kann sich die Linke nicht dem Vorwurf aussetzen, Italien zu Fall zu bringen. So lautet denn die linke Parole: „Wir stimmen für das Paket, aber wir sind dagegen“. Doch nur wenige taten es. Der grüne Parteichef Angelo Bonelli kommentierte: „Die Armen werden noch ärmer“.
Wird jetzt wirklich gespart?
Die Sparmassnahmen beliefen sich zunächst auf 47 Milliarden Euro. Doch das genügte der EU nicht. So stockte Tremonti das Paket auf 79 Milliarden auf. Doch wird jetzt wirklich schnell gespart?
Das Paket sieht vor, dass in diesem Jahr zwei Milliarden Euro gespart werden. Im nächsten Jahr sollen es sechs Milliarden sein, 2013 dann 23 Milliarden – und 2014 47 Milliarden. In diesem Jahr sollen also lumpige zwei Milliarden eingespart werden – für eine riesige Volkswirtschaft, wie die italienische, ist das wenig.
Der grösste Brocken aber, also 47 Milliarden, soll nicht die jetzige, sondern die nächste Regierung sparen. 2013 finden in Italien allgemeine Wahlen statt. Die Möglichkeit ist gross, dass dann Berlusconi nicht mehr gewählt wird, sofern er überhaupt bis dann durchhält. Die schmerzlichste Sparübung, die sicher Streiks und soziale Unruhen mit sich bringen wird, soll also die künftige Regierung durchziehen.
Mehr Steuern für Familien und junge Paare
Wie soll gespart werden, woher kommt das Geld? Vor allem junge Paare und Familien werden zur Kasse gebeten. Sie sollen mehr Steuern bezahlen. So soll zum Beispiel ein junges Paar mit einem Kind (beide Elternteile arbeiten) auf ein Gesamteinkommen von 28‘000 Euro künftig 904 Euro mehr Steuern bezahlen müssen. Ein Arbeiter mit Frau und Kind, der 18‘000 Euro verdient, soll 556 Euro mehr bezahlen.
Hohe Pensionen sollen stärker besteuert werden. Wer mehr als 90‘000 Euro Rente bezieht, muss einen Solidaritätsbeitrag von fünf Prozent bezahlen. Wer eine Pension von über 150‘000 Euro hat, soll zehn Prozent mehr bezahlen. Vor allem will man auch im Gesundheitswesen sparen. Schon ab dem kommenden Montag soll das sogenannte „ticket“ Anwendung finden. Für jedes ärztliche Rezept sollen zehn Euro berechnet werden, für Notfälle, Untersuchungen im Spital oder Transport mit dem Krankenwagen sollen 25 Euro bezahlt werden. Vor allem die Linke wehrte sich dagegen. Sie argumentiert, dass dies vor allem die Ärmeren und die Kranken betreffe. Die Begüterten würden sich ohnehin privat behandeln lassen.
Im Weiteren soll in der öffentlichen Verwaltung gespart werden. Ferner will der Staat Anteile an grossen staatseigenen Firmen, wie Enel, Eni, Poste Italiane, Ferrovie dello stato verkaufen.
Die Massnahmen werden zahlreichen Italienern Existenzprobleme bringen. Ausgerechnet am Tag, als die Abstimmung im Abgeordnetenhaus stattfand, veröffentlichte das Statistische Amt Zahlen zur Armut. Danach gelten 8 Millionen und 272‘000 Italienerinnen und Italiener als arm. Das sind 13,8 Prozent der Bevölkerung.
Tiefe Strukturkrise
Genügen all diese Massnahmen, um das Vertrauen der Anleger zurückzugewinnen? Wohl nicht. Schon jetzt kann prophezeit werden, dass die Börse keine riesigen Freudensprünge machen wird.
Denn das Hauptproblem bleibt. Italien steckt in einer tiefen Strukturkrise. Die Wirtschaft wächst kaum. Die Innovationskraft lahmt. Die groteske Bürokratie mit all ihren unsinnigen Gesetzen und Hürden flösst wenig Vertrauen ein.
Die Politiker zerfleischen sich. Die Regierung befindet sich im Zustand des „fin de règne“. Die Ratten verlassen das Schiff. Selbst Wirtschaftsminister Tremonti geht arg auf Distanz zu Berlusconi. Regiert wird kaum mehr, der Ministerpräsident kümmert sich nur um seine eigenen Probleme.
„In den nächsten zwei Jahren kommen die wirtschaftlichen Reformen“, sagte Berlusconi am Freitagabend. Wieso erst jetzt? Er hätte 17 Jahre Zeit für sie gehabt.
Um die Märkte zu überzeugen, dass es Italien ernst meint, braucht es mehr als ein 79 Milliarden-Sparpaket. Berlusconi muss ersetzt werden – nicht etwa durch eine linke Regierung, sondern durch eine Art „Grosse Koalition“. Oder durch ein „governo tecnico“: eine „technische Regierung“, die sich aus Fachleuten und Experten zusammensetzt. Italien hat mit solch technischen Regierungen schon zwei Mal gute Erfahrung gemacht. Solange Berlusconi Ministerpräsident ist, wird das Land kein Vertrauen der Anleger gewinnen. Da nützt jedes Sparpaket nichts.