«Hören Sie gut hin!» ermahnt er mich vor der Probe, seiner ersten im neuen Maag-Tonhalle-Saal. Die Akustik ist ihm noch nicht ganz geheuer. «Sagen Sie mir hinterher, wie es geklungen hat!»
Aber klar, spitze ich die Ohren. Ich bin ja selbst neugierig. Und es ist aufregend, denn der Maag-Tonhalle-Saal ist für uns beide eine Premiere. Für Francesco Piemontesi als Pianist auf der Bühne, für mich als Zuhörerin im Saal.
Und tatsächlich: Alles ist anders als im gewohnten Tonhalle-Saal. Nicht nur die Lage in Zürichs Wildem Westen und der Geruch nach frischem Holz, sondern vor allem der Klang, um den es Francesco Piemontesi vor allem geht: transparenter, direkter, deutlicher, klingt es hier, als wenn man ein Vergrösserungsglas über die einzelnen Töne gelegt hätte. Francesco Piemontesi gefällt’s.
Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 in c-Moll ist sein persönliches Debüt in diesem Saal. Beliebt beim Publikum und inspiriert von Mozart. Begleitet wird Piemontesi vom Tonhalle-Orchester unter der Leitung von Charles Dutoit. Ein durchwegs schweizerischer Abend mit einem Zürcher Orchester, einem Westschweizer Dirigenten und einem Tessiner Pianisten. Dass der Jubel am Schluss des Konzerts gross ist, hat freilich nichts mit der Nationalität zu tun. Den verdankt Francesco Piemontesi ganz allein seinem Können, seiner Virtuosität, seiner Ausstrahlung und auch seiner Feinfühligkeit beim Spiel.
Keine Alternative
Mit 34 Jahren zählt er immer noch zu den jüngeren Pianisten. Die Karriere hat ihn mittlerweile so ziemlich überallhin gebracht. Sein Konzertkalender ist weltumspannend. Die Berufswahl war eindeutig richtig. Warum aber ist er überhaupt Pianist geworden und nicht Buchhalter, Bäcker oder Informatiker? Inzwischen ist die Probe beendet und er sitzt auf dem schwarzen Ledersofa in der Künstlergarderobe und denkt nach. «Schwer zu sagen,» meint er dann. Aber eine Alternative habe es nie für ihn gegeben. «Meine Eltern erzählten mir, dass ich schon früh immer mit irgendwelchem Klang beschäftigt war, einen Stein genommen und ein Glas damit zum Klingen gebracht habe und dann pausenlos auf einem Kinderpiano gespielt habe.» Den Eltern war klar: Francesco sollte Musikunterricht bekommen. Die Geige, die seine Eltern ins Auge gefasst hatten, verschmähte er. Ein Klavier musste her. «Ja, und dabei ist es geblieben. Es gab nie einen Moment, in dem ich mich gefragt hätte, soll ich Pianist werden oder nicht, das hat sich ganz natürlich so entwickelt. Es gab Wettbewerbe, die ersten richtigen Konzerte, alles andere war undenkbar für mich.»
Und was bedeutet Musik für ihn? «Musik – das sind organisierte Klänge», sagt Piemontesi. «Diese Klänge entwickeln sich durch die Geschichte weiter. Da fliesst einiges von Strassenmusik hinein, spirituelle Musik und einiges von der eigenen, inneren Musik. Jetzt, im 21. Jahrhundert, kommen auch Strassengeräusche hinzu und fusionieren mit den Klängen.» Gar nicht so einfach zu erklären, was Musik ist, und dennoch bewegt sie uns im Innersten. «Ich habe beim Klavierspielen auch schon Tiere beobachtet, Hunde zum Beispiel, und die hören einfach zu. Es ist unglaublich, mit welcher Aufmerksamkeit sie dabei sind, wie sie die Ohren spitzen und stundenlang zuhören können.»
Diese unglaubliche Einfachheit
Auf dem Papier sieht Musik ziemlich spröde aus: ein paar schwarze Punkte zwischen fünf Linien. Und damit tun sich Welten auf: man wird verträumt, gut gelaunt, traurig, melancholisch, sentimental, es wird einem leicht oder schwer ums Herz. Was passiert da? «Ja, da zeigt sich dann die Grösse eines Komponisten wie etwa Mozart. Er meisterte jede Gefühlslage, er wusste ganz genau, wie er schreiben muss, damit beim Zuhören ein bestimmtes Gefühl entsteht. In dieser Präzision und in dieser konsequenten Art ist es am Schluss das, was grosse Musik ausmacht.»
Mozart hat Piemontesi in den letzten Monaten ganz besonders beschäftigt. Er hat soeben eine CD mit Mozart-Klavierkonzerten herausgegeben und war mit einem Mozartprogramm auf Tournee. «Ich widme mich gern eine gewisse Zeit lang einem bestimmten Komponisten. Jetzt war es Mozart. Er ist vielleicht einer der komplettesten Komponisten, in dem Sinne, dass in seinen Werken jede Emotion dargestellt ist. Gleichzeitig ist da diese unglaubliche Einfachheit, zumindest an der Oberfläche. Da ist eine Melodie, die uns berührt wie ein Kinderlied, das Jugenderinnerungen hervorruft. Und wenn man es analysiert, sieht man, wie komplex das alles ist. Ich glaube, es war Busoni, der gesagt hat, dass Mozart für Kinder zu leicht ist und zu kompliziert für Erwachsene. Aber diese Mozart-Sonaten werden nun längere Zeit ruhen. Nächstes Jahr beginne ich mit einem Schubert-Zyklus, und irgendwann folgt Beethoven.»
Ein Musikstück wie ein Gebäude
Hat sich, nachdem er jetzt längere Zeit mit Mozart unterwegs war, seine Interpretation verändert? Nein, eigentlich nicht, sagt Piemontesi. Allerdings: «Ein Stück zu interpretieren, ist für mich so, wie wenn ich ein wunderbares Gebäude anschaue. Je nachdem, wie die Beleuchtung ist und je nachdem, von wo aus man das Gebäude betrachtet, sieht man es anders. Aber das Gebäude bleibt das gleiche. Nur unsere Wahrnehmung verändert sich.»
Eine besondere Affinität hat Piemontesi zu Franz Schubert. «Da kann man mit den Emotionen so tief eintauchen wie bei kaum einem anderen. Aber auch Leoš Janáček spiele ich wahnsinnig gern. Die ergreifendsten Momente auf der Bühne habe ich aber vielleicht mit Olivier Messiaen erlebt. Sehr wichtig ist auch Zeitgenössisches. Ich versuche immer, ein Stück ins Konzert mit einzubauen, das nach 1950 entstanden ist. So habe ich bei meinem letzten Konzert in Zürich späte Beethoven-Sonaten mit späten Klavierstücken von Stockhausen kombiniert. Aber oft muss man mit dem Veranstalter ringen, denn manchmal getrauen sie sich gar nicht, solche Stücke aufs Programm zu setzen.»
Als Tessiner in Berlin
Als Tessiner lebt Francesco Piemontesi nun schon 15 Jahre in Deutschland, fünf Jahre in Hannover und seit zehn Jahren in Berlin. Weil die Musikschule in Lugano damals noch klein war und die Prüfungen nur alle zwei Jahre abgelegt werden konnten, hatte es Piemontesi gleich nach der Matura erst ein Jahr nach Zürich und dann zur weiteren Ausbildung nach Deutschland verschlagen. Zwischendurch kehrt er ins Tessin zurück. Die üppige Natur, die landschaftliche Schönheit und wohl auch die Italianità seiner alten Heimat begeistern ihn dann sehr.
«Das ist mir alles erst aufgefallen, nachdem ich weg war. Berlin ist ganz anders, flach und keine wirklich schöne Stadt, aber mit einer grossen kulturellen Vielfalt, eine Stadt, die total verschuldet ist, sich aber trotzdem ein neues Schloss leistet, die Staatsoper renoviert und einen Konzertsaal baut. Das ist doch unglaublich! Aber auch die Mentalität gefällt mir. Manchmal bekommt man vielleicht eine unfreundliche Antwort, das ist die Berliner Schnauze, aber man weiss genau, woran man ist.» Dann überkommt ihn aber doch auch etwas Tessiner Nostalgie. «In der italienischen Welt ist man halt doch herzlicher zueinander und das fehlt mir manchmal in Berlin.»
Seit er die Leitung der «Settimane Musicali» in Ascona übernommen hat, gibt es für ihn einen Grund mehr, regelmässig ins Tessin zu kommen. Und das hat durchaus mit Sentimentalität zu tun, gibt er zu. «Bei diesem Festival hatte ich mein allererstes Konzerterlebnis als Kind. Alicia de Larrocha spielte die Goyescas von Enrique Granados. Ich hörte den Klang und dachte, das gibt es ja nicht, es ist das gleiche Instrument wie bei uns zuhause und es klingt ganz anders. Das war einer der wichtigsten Momente in meiner Jugend. Später habe ich dort zum ersten Mal Tschaikowsky-Sinfonien gehört, Beethoven-Quartette, Werke von Max Reger. Als die Anfrage kam, ob ich das Festival leiten würde, dachte ich: um Gotteswillen, ich habe doch keine Erfahrung!» Die Erfahrung hatten die anderen Mitarbeiter, Piemontesi muss sich nur ums Programm kümmern, und es klappt hervorragend.
Inzwischen ist Francesco Piemontesi wieder unterwegs. In der grossen Welt, aber auch in den heimischen Bergen. Ende Oktober spielt er Schubert hoch oben auf dem Pilatus in einem Nachtkonzert und am nächsten Morgen in einer Matinee. Eine Umgebung, in der er den Emotionen, die ohnehin bei Schubert aufkommen, so richtig freien Lauf lassen kann, bevor es weitergeht nach England, Deutschland, Dänemark und und und.
CD
Francesco Piemontesi
MOZART
Klavierkonzerte 25 und 26
Linn Records
28./29. Oktober
«Gipfelwerke auf dem Pilatus»
Francesco Piemontesi und Gabriele Leporatti
spielen Franz Schubert
www.sinfonieorchester.ch