Eurasien ist ein mehrdeutiger Begriff, bezeichnet aber geographisch Russland, Zentralasien – also die fünf sogenannten Stan-Staaten Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan, Kirgistan und Turkmenistan – sowie die Kaukasus-Staaten Armenien, Aserbaidschan und Georgien. Das gemeinsame Band ist die Vergangenheit in der Sowjetunion, die Aussenbeziehungen, speziell mit China und der Türkei, und die geographische Lage am Übergang von Europa nach Asien. Um die aktuellen Konflikte zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach sowie einen offensichtlichen und gewaltsamen Putsch in Kirgisien – das doch allgemein als die einzige Demokratie Zentralasiens gilt – zu erhellen, muss das geopolitische Umfeld beleuchtet werden.
Hinterlassenschaften der Sowjetunion
Russland ist im Kern europäisch, fühlt sich aber politisch von Europa abgewiesen. Aus der Sicht Moskaus hat der Untergang der UdSSR zum Abfall der europäischen Ostblockpartner und des Baltikums geführt. Beides zugunsten der EU und der Nato. Umso interessierter ist Russland, zumindest das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion in seinem exklusiven Interessenfeld zu behalten. Seit Putin an der Macht ist, schreckt der russische Bär nicht davon zurück, dafür auch militärische Gewalt einzusetzen. So auf der Krim, in der Ostukraine und in Georgien.
Die Umgangssprache zwischen Zentralasiaten ist oft noch Russisch. Emotional sind sie Moskau näher als Beijing, ungeachtet des chinesischen Vorstosses in die Region. Ausdruck davon ist die 2014 gegründete Eurasische Wirtschaftsunion (EurAsian Economic Union, EAEU), welcher Russland, Weissrussland, Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan und Armenien angehören.
Nach dem Zerfall der UdSSR hatte sich in den acht Ländern zunächst wenig verändert, weder politisch noch wirtschaftlich. Einzelne haben sich aber nun vom alten System emanzipiert. Armenien ist heute praktisch eine Demokratie. In verschiedenen Stan-Staaten hat die erste autokratische und korrupte Generation nach der Unabhängigkeit abgedankt. Alte Seilschaften aus der sowjetischen Zeit haben allerdings überdauert. Kommunistische Spitzenfunktionäre waren ja nach der Implosion nahtlos durch einheimische Auto- und Plutokraten ersetzt worden. Diese sind nicht einfach verschwunden, sondern bereit für ein Comeback, wie dies zufolge ersten Meldungen in Kirgisien der Fall zu sein scheint.
Umkämpftes Zentralasien
Der gesamte zentralasiatische Raum ist Zankapfel zwischen Russland und China. Mit viel Geld will China diesen von den alten sowjetrussischen Bindungen loskaufen. Werkzeug dafür ist die BRI (Belt and Road Initiative, Neue Seidenstrasse) Beijings. Die Verlockung riesiger Infrastrukturprojekte, spezieller Wirtschaftszonen und auch weicherer Finanzierung, etwa von Landwirtschaftsprojekten, ist gross. Sie lässt die offizielle Politik der mehrheitlich muslimisch Staaten Zentralasiens über die flagrante Verletzung der Menschenrechte im muslimisch geprägten Westen Chinas hinwegsehen.
Nicht so der selbsternannte Kalif aller Muslime in Ankara. Präsident Erdogan braucht den Islam als Mittel und Hebel, um seine grosstürkischen (in Asien) und post-osmanischen (im Mittleren Osten) Vorstellungen zu realisieren. Daher die nach verlässlichen Nachrichten von der Türkei auf Seiten Aserbaidschans gegen Armenien eingesetzten Mittel – türkische Drohnen und syrische Söldner. Diese kämpfen «für den Islam» gegen die «ungläubigen», weil christlichen, Armenier. Diese wiederum zögern nicht, das historische Trauma des türkischen Genozids gegen Armenier ins Feld zu führen. Dies ungeachtet der Tatsache, dass sich Berg-Karabach, wiewohl armenisch besiedelt, innerhalb des völkerrechtlich anerkannten Territoriums von Aserbaidschan befindet.
Interessen Russlands, Chinas und der Nato
Sowohl im Konflikt um Berg-Karabach als auch, und ganz besonders in Kirgisien wirken natürlich auch innenpolitische Faktoren. Sie können oft nur von Spezialisten aufgeschlüsselt werden. Man darf aber getrost davon ausgehen, dass alle beteiligten Parteien sich an den einen oder anderen mächtigen Nachbarn anlehnen und damit auch von diesen abhängig sind. Damit kann man den Fluch mächtiger Nachbarn allenfalls auch als Segen sehen. Dann nämlich, wenn diese kein Interesse daran haben, dass solch regionale Konflikte die grossen Linien ihrer eigenen Ambitionen durchkreuzen.
China als im Zuge der zwei Krisen wenig genannter, aber wichtiger Mitspieler in Zentralasien hat mit solchen lokalen Krisen wohl am meisten zu verlieren. Denn erstens stören, ja unterbrechen solche die via BRI vorangetriebenen Wirtschaftsprojekte – in Armenien erst in Planung, in Aserbaidschan und Kirgisien in Ausführung – und zweitens muss Beijing im Bedrohungsfall seine im Rahmen dieser Projekte exportierten Landsleute heimholen. Auch und gerade unter Xi Jinping ist die öffentliche Meinung nicht bereit, chinesische Opfer in unverständlichen Konflikten hinzunehmen.
Auch Putin kommen diese Krisen gar nicht entgegen. Russland ist sowohl mit Armenien (politisch) als auch mit Aserbaidschan (wirtschaftlich) eng verbunden. Ein islamisch gefärbter Sieg Aserbaidschans könnte zudem islamisch geprägte Minderheiten anderswo in der alten Sowjetunion oder gar in Russland selbst zur Revolte ermutigen.
Angesichts des türkischen Vorgehens ist auch die Nato gefordert. Hauptfrage hier ist, ob Erdogan wirklich die Zugehörigkeit seines Landes zum atlantischen Sicherheitsverbund noch stärker aufs Spiel setzen will. Seine Beziehungen zur Nato sind in der Folge seiner Waffenkäufe in Russland, seines Vorgehens gegen die Kurden in Syrien sowie beim Gasstreit im Mittelmeer bereits zum Zerreissen angespannt. Sollte sich der Konflikt um Berg-Karabach wegen offensichtlich türkischen Beistands für Aserbaidschan gefährlich zuspitzen, könnte das Fass überlaufen. Nicht nur in Frankreich, wo die armenische Diaspora speziell wichtig ist, dürfte die Geduld mit dem Grosskalifen am Bosporus dann zur Neige gehen.
Involvierte Schweiz
Zwischen der offiziellen Schweiz und den Stan-Staaten sowie Aserbaidschan bestehen spezielle Verbindungen. Wir gehören einer gemeinsamen Stimmrechtsgruppe in den Bretton-Woods-Organisationen an, was zu schweizerischen Entwicklungsfinanzierungen geführt hat. Ebenso sind die beiden schweizerischen Exekutivdirektoren in der Weltbank und im Währungsfonds (mit Polen geteilt) privilegierte Gesprächspartner schweizerischer Exporteure und Investoren in dieser Region.
Dies zeigt einmal mehr, dass die Schweiz, die im europäischen Vergleich eine politische Mittelmacht und eine Wirtschafts- und Finanzgrossmacht ist, sich im Konfliktfall nicht in der vermeintlichen Sicherheit ihrer Neutralität verkriechen kann. Auch und gerade wenn Streitparteien sich «weit hinten in der Türkei» die Köpfe einschlagen.