Kürzlich berichtete Philipp Meier in der NZZ *) über die Ausstellung „Lernen über Leben“ im Nordamerika-Native-Museum in Zürich. Dass die Indianer andere Vorstellungen über Kindererziehung, Lerninhalte und Methoden der Wissensvermittlung haben (‚hatten’ muss man korrekterweise sagen) als die Schweiz des 21. Jahrhundert, ist zu erwarten und kaum eines weiteren Gedankens wert. Gegen giftige Pilze und Wetterumbrüche haben wir die Lebensmittelkontrolle und den Wetterfrosch, dafür müssen wir lernen, eine belebte Strasse zu überqueren oder einen Billettautomaten zu bedienen, ganz abgesehen von all dem Wissen, das wir für die Teilnahme am Erwerbsleben benötigen.
Lernen von der Natur
Gerade weil die Situationen so fundamental verschieden sind, kann ein Vergleich unseren Blick für die eigenen Defizite schärfen. Ein Lernziel der Indianer ist mir besonders aufgefallen: Lernen von der Natur durch Beobachtung. Nun würde man meinen, die durch die Naturwissenschaften geprägte moderne Gesellschaft sei, wie keine andere je zuvor, Meister im Beobachten und im Durchschauen der Natur. Noch nie sei die Menschheit fähig gewesen, derart gründlich hinter die Kulissen des Naturtheaters zu schauen und damit natürliche Phänomene rational zu erklären, für welche früher übernatürliche Kräfte, das Walten von Göttern oder des einen allmächtigen Gottes bemüht werden mussten.
Doch ein zweiter Blick lehrt uns etwas anderes: Die Naturwissenschaftler schauen schon lange nicht mehr mit dem blossen Auge, riechen nicht mehr mit der Nase und hören nicht mehr mit den Ohren. Elektronische Sensoren, raffinierte chemische Analyseinstrumente und Gensequenzierungsapparate haben die von der menschlichen Natur gesetzten Grenzen unserer Sinne weit hinter sich gelassen. Die Augen der Wissenschaft sind heute Mikroskope wachsender technischer Raffinesse, vom altväterischen Lichtmikroskop über das Elektronenmikroskop bis zum Raster-Tunnelmikroskop – notabene am IBM Laboratorium in Rüschlikon von Heinrich Rohrer und Gerd Binning erfunden und 1986 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Das CERN in Genf, das mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens Schlagzeilen gemacht hat, ist eigentlich nichts anderes als ein gewaltiges Mikroskop mit einer bisher nie erreichter Auflösung.
Das eigene Schauen kann nicht an den Spezialisten delegiert werden
Gleichzeitig mit dieser Entwicklung ging eine Arbeitsteilung einher zwischen den Spezialisten, welche gleichsam stellvertretend für die Menschheit mit diesen neuartigen Sinnesorganen umzugehen wissen, und den „Konsumenten“ jenes von den Spezialisten produzierten Wissens, die sich blind darauf verlassen, in den meisten Fällen verlassen müssen und – den Fachleuten sei Dank – auch dürfen. Wir vertrauen der Wahrnehmung unseres Arztes, des Ingenieurs, der Bauwerke berechnet und überprüft, des Fleischschauers, Lawinenfachmanns, Meteorologen, Epidemiologen, wir vertrauten – bis vor ein paar Jahren – dem Börsenspezialisten. Und im Allgemeinen profitierten wir von all diesen Beobachtungsspezialisten in Form einer Senkung unseres Lebensrisikos, denn die Summe ihres Wissen könnte der Einzelne nie in sich vereinigen, und wären seine Sinnesorgane auch diejenigen eines Indianers.
Aber gleichzeitig sind wir sowohl tollkühn als auch blind geworden, auch in jenen Bereichen, in denen uns eine eigene sinnliche Wahrnehmung möglich wäre. Wir wagen uns im Vertrauen auf den Lawinenexperten und auf Suchgeräte bei prekären Schneeverhältnissen ins Gebirge, tollen im Gewitter am Strand herum und werden vom Blitz getroffen oder beim Canyoning von einer Flutwelle überrascht, fahren auf Anleitung des GPS (auch so ein modernes Sinnesorgan) in einen Fluss, wie kürzlich an der Oder geschehen.
Verstehen heisst nicht Beherrschen
Dass wir heute viele natürliche Phänomene wissenschaftlich erklären können, heisst noch lange nicht, wir würden die Natur beherrschen. Es ist umgekehrt: Die Naturkräfte beherrschen uns, wie wir bei einem Erdbeben, bei Vulkanausbrüchen, extremen Wetterereignissen und Hochwasser immer wieder schmerzlich erfahren. Mehr Wissen über die Natur sollte eigentlich unseren Respekt vergrössern. Dazu kommt, dass der unendlich mobile Mensch sich heute ohne Anstrengung in Gefahren begeben kann, für die ihm die eigene Erfahrung abgeht: Dem Flachländer fehlt der Blick für die Heimtücken von Lawinen, dem Binnenländer derjenige für die Gefährlichkeit von Meeresströmungen.
Beobachtenlernen
Wir müssen das Beobachten mit den „unbewaffneten“ Sinnen wieder lernen. Als ich kürzlich von Romanshorn dem Bodensee entlang Richtung Kreuzlingen wanderte und auf den still und harmlos daliegenden See hinausschaute, sind mir die Opfer des Tsunami vom Dezember 2004 in den Sinn gekommen, darunter manche, welche beim plötzlichen Zurückweichen des Meeres neugierig und ahnungslos, weil ohne entsprechende Erfahrung, dem Wasser gefolgt sind, statt wie jene Familie, deren Tochter in der Schule zufälligerweise über das Phänomen des Tsunami gehört hatte, sich sofort ins Landinnere in Sicherheit zu bringen. Dabei hätte sogar der Binnenländer die herannahende Katastrophe ahnen können.
Vom Tsunami zum Bodensee
Wenn wir schon am Bodensee sind: Am 23. Februar 1549 vormittags, so berichtet der Chronist Christoph Schothais aus Konstanz, stieg der Wasserspiegel des Bodensees merklich an, ging dann um ca. 60 cm zurück, um zusammen mit einer kräftigen Strömung erneut zu steigen. Die rhythmische Bewegung dauerte bis in den Nachmittag. Zur gleichen Zeit beobachteten Fischer im Rheinsee, der Verbindung zwischen Bodensee und Untersee, wie die Strömung periodisch ihre Richtung wechselte und das Wasser gegen Konstanz zurückfloss.
Das ist die älteste überlieferte Aufzeichnung über ein Phänomen, das auch an andern Seen beobachtet wurde, am Genfersee zum Beispiel. Man hat ihm dort sogar einen Namen gegeben: „Seiche“, von „sèche“ abgeleitet, vermutlich wegen des periodischen Trockenfallens des Ufers. Erstmals tauchte dieser Name im Jahre 1730 in einer Beschreibung des Stadtingenieurs von Genf, Fatio de Dullier, auf. Auch der berühmte Naturforscher Horace Bénédict de Saussure, Erstbesteiger des Mont Blanc, beobachtete am 3. August 1763 eine Seiche von anderthalb Meter Amplitude, so dass der Hafen von Genf periodisch trocken fiel. Aber erst François-Alphonse Forel, der mit seinem Standardwerk ‚Le Lèman’ zum Vater der modernen Limnologie (Lehre von den Binnengewässern) wurde, fand im Jahre 1876 eine befriedigende physikalische Erklärung für die Seiche: Starke Winde schieben das Wasser an das eine Ufer (nicht anders als vor ein paar Wochen der Sturm Xavier an der Nordsee). Nach Abflauen des Windes strömt das Wasser in seine Ruhelage zurück und wegen seiner Trägheit darüber hinaus. Forel übertrug die fünfzig Jahre ältere Theorie von J.R. Merian (1828) über das Hin- und Herschwappen einer Flüssigkeit in einem Gefäss auf den Genfersee und berechnete so für die Seiche eine Grundperiode von 74 Minuten. Wegen Forels Untersuchungen werden heute in der Limnologie die sich über den ganzen See erstreckenden langen Wellen allgemein Seiche genannt.
Nicht allein dem Fachmann vertrauen –selber denken und schauen
„Nicht fragen – selber denken“, hiess ein indianischer Grundsatz der Kindererziehung. „Nicht allein dem Fachmann vertrauen – selber beobachten“, wäre dem modernen Menschen zu raten. Und wenn Sie einmal Zeit zum meditativen Schauen haben, beobachten Sie nach Abflauen eines starken Windes am Ende eines Sees den Wasserspiegel. Es muss ja nicht gerade der Genfer- oder Bodensee sein. Je kürzer der See, desto kürzer die Periode. Oder spielen Sie ein bisschen Merian und beobachten Sie, wie sich die Wasserbewegungen nach dem Verlassen der Badewanne nach kurzer Zeit in eine Welle verwandeln, welche an den Enden maximale Amplitude hat und in der Mitte die Höhe der Wasseroberfläche ziemlich konstant lässt. Und schliesslich noch ein Tipp für Autofahrer: Das GPS ist gut, aber der eigene Blick auf die Strasse besser.
*) NZZ Nr. 302 (30.12.2013) auf Seite 13. (Artikel gebührenpflichtig)