Meine Investition – ich glaube, es ging um 50 oder 100 Franken – galt der Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersees (SGV). Ein Freund und Studienkollege hatte mir berichtet, der Verwaltungsrat der SGV, offensichtlich zusammengesetzt aus Personen ohne Visionen und Antennen für die Zeichen der Zeit, hätte beschlossen, die damals noch aus fünf stolzen Schiffen bestehende Dampferflotte sukzessive stillzulegen und durch moderne Motorschiffe zu ersetzen. Das sechste überlebende Schiff, die Wilhelm Tell, sei bereits 1971 verkauft worden und liege seither, unfähig sich selber zu bewegen, als schwimmendes Restaurant in Luzern am Schweizerhofquai.
Als nächstes wäre die „Unterwalden“ an der Reihe gewesen. Ein neues Motorschiff hatte man 1976 – welche Schmach – bereits auf den gleichen Namen getauft, so dass in jenem Sommer zwei Schiffe mit demselben Namen unterwegs gewesen waren. Das war wohl der Tropfen, welcher das Fass zum Überlaufen brachte. Das 1971 gegründete Aktionskomitee unter der Leitung von Hermann Heller, aus dem später der Verein „Dampferfreunde“ wurde, plante einen geheimen Angriff auf die SGV. Es verschaffte sich im Rahmen einer im Jahre 1977 stattfindenden Kapitalerhöhung durch Aktienkäufe seiner Mitglieder und anderer Dampferfans das nötige Gewicht, um an einer ausserordentlichen GV im September 1977 die Wahl eines neuen, dampferfreundlichen SGV-Vorstandes durchzusetzen und so die Ausmusterung der Dampfschiffe zu beenden. Damals kam ich zu meiner SGV-Aktie.
Doch die Dampferfreunde leisteten weit mehr als das; sie sammelten Geld für die Renovation der Unterwalden, später auch für die andern vier verbleibenden Dampfschiffe, und sie tun dies bis heute. Die elegante Unterwalden dampft seit 1985 wieder auf dem Vierwaldstättersee, ihr einstiger Rivale, das MS Unterwalden, wurde zur Europa umgetauft, und mein Physiker-Freund, der mich damals zum Kauf der SGV-Aktie animiert hatte, amtete später während vielen Jahren als Direktor der SGV und war damit für eine der grössten binnenländischen Dampferflotten Europas verantwortlich.
Als Aktionär erhält man für jene Woche im Juni, in der traditionsgemäss die Generalversammlung stattfindet, anstelle einer Tantieme eine Tageskarte erster Klasse. Obschon ich in der Vergangenheit öfter auf dem Vierwaldstättersee unterwegs gewesen war, hatte ich dieses Angebot noch nie nutzen können. In diesem Jahr sollte es anders werden.
Um 9 Uhr stehen meine Frau und ich am Quai beim Luzerner Bahnhof. Dunkle Wolken hängen tief über der Stadt, aber das kümmert die ständig wachsende Menschenmenge beim Anlegeplatz 1 offensichtlich wenig. Es lassen sich zwei Gruppen unterscheiden: Hier die asiatischen Touristen, welche ihre Umgebung nur über das Display ihrer Handys und Tablets wahrnehmen, dort die stämmigen Schweizer Frauen und Männer, die meisten im Pensionsalter wie wir, welche stolz ihre Freikarten in den Händen halten.
Von der Werft her nähert sich rückwärtsfahrend, angesichts der nahen Seebrücke beängstigend schnell, das ausladende Heck eines Schaufelraddampfers. Souverän stoppt der Kapitän sein Schiff am Steg. Die Mannschaft darf der staunenden Menschenmenge ein erstes Mal die wohl eingeübten Seilwürfe über die Anlegepfosten vorführen.
Es ist die Uri, Baujahr 1901, das älteste Schiff der SGV-Flotte. In Windeseile füllt sich das Schiff, vor allem das Oberdeck, wo wir zum Glück im wettergeschützten Teil an einem mit weissen Tischtüchern gedeckten Vierertisch bei zwei älteren Damen Platz finden.
Abfahrt pünktlich um 09:12, angezeigt durch ein lange ansteigendes Signal der Dampfpfeife (1). – Das ist nicht eine Lärmquelle – der gerichtlich klagende Zürichsee-Anwohner muss ein kulturloser Banause sein! –, sondern die musikalische Ouvertüre eines unvergesslichen Abenteuers auf dem Wasser, wie es eigentlich jede Schiffsfahrt ist. Bei Kaffee und Gipfeli kommen wir bald mit unserer Nachbarin ins Gespräch.
Schon Jahre sei sie nicht mehr auf dem Vierwaldstättersee gewesen, und noch nie in der ersten Klasse. Sie wohne im Altersheim und müsse ihr Geld zusammenhalten. Ein Bekannter hätte ihr die zwei Freikarten für ihre Freundin und sie geschenkt. Die beiden strahlen übers ganze Gesicht. Sie würden bis Flüelen fahren, dort am Hafen das mitgebrachte Picknick verspeisen – das Essen auf dem Schiff sei leider zu teuer – und mit einem späteren Schiff wieder nach Luzern zurückkehren.
Nach dem Halt beim Verkehrshaus darf die Uri endlich zeigen, was in ihr steckt. Über den Kreuztrichter durchpflügt sie das Wasser Richtung Hertenstein und Weggis – wer würde da nicht an jenes Lied denken, das zu jeder Schulreise gehörte, auch wenn man im Baselbiet oder im Tösstal unterwegs war. Unterdessen hat der kalte Wind jene Passagiere, welche sich in Luzern auf dem Aussendeck installiert haben, ins Innere gescheucht. Mit begehrlichen Blicken streichen sie, den Kaffeeduft in der Nase, an unserem Tisch vorbei, aber wir lassen uns nicht verscheuchen.
Erst als sich in Vitznau, hinter der von Ober- und Unternas flankierten Durchfahrt in den Gersauersee, die Sonne zeigt, verabschieden wir uns von den beiden Damen und suchen uns im Freien hinter dem rechten Schaufelrad einen Platz auf der Sonnenseite. Nach dem Halt in der während Jahrhunderten selbständigen „altfrye Republik Gersau“, welche in der Zeit der Mediation dem Kanton Schwyz zugeschlagen worden war, aber 1814 noch einmal für kurze drei Jahre Selbständigkeit zelebrierte, geht’s hinüber nach Treib (unverkennbar, das Gasthaus mit den schwarz-gelben Fensterläden) und schliesslich nach Brunnen.
Auf der Weiterfahrt zum Rütli verkündet der Kapitän, auf dem Urnersee blase ein kräftiger Föhn. Die Sturmfront hätte schon fast das Rütli erreicht, der Verbleib auf den Aussendecks sei nicht zu empfehlen. Tatsächlich, unser durch jahrelange eigene Schiffsererfahrung geschärften Augen erspähen gegen Brunnen zu, unter dem vom Föhn herausgeputzten blauen Himmel, eine scharfe, sich durch brechende Wellen manifestierende Windfront, auf die nun die Uri tapfer zuhält.
Die Mannschaft hat unterdessen die grosse Schweizerfahne im Heck eingeholt und auf dem Aussendeck die nicht festgeschraubten Papierkörbe in Sicherheit gebracht. An ein gemütliches Verweilen in Flüelen ist nicht zu denken. Spontan ändern wir unsere Pläne und setzen uns, ein paar Minuten früher als die ahnungslos auf Deck ausharrenden Passagiere, an einen festlich gedeckten Tisch im noch leeren neobarocken Speisesaal des Hauptdecks.
Die Kellnerin, welche uns das Mittagessen und eine Flasche Roten bringt, ist bleich im Gesicht. Noch nie sei sie seekrank geworden, aber heute spüre sie die Wellen, meint sie. Die Anlegemanöver in Bauen und Isleten fordern dann auch die ganze Aufmerksamkeit und Erfahrung von Mannschaft und Kapitän. Letzterer hat für das Festmachen ein zusätzliches Stahlseil angeordnet, um zu verhindern, dass das Schiff am Steg durch den Sturm abgedreht wird. Alles wirkt sehr professionell, wir fühlen uns ein bisschen wie in einem Sturm auf dem Atlantik.
In Flüelen kommt eine brasilianische Reisegruppe an Bord und nimmt die reservierten Plätze im Speisesaal ein. Beim Eingang neben der Öffnung ins Unterdeck, von wo man die gewaltige Dampfmaschine von Sulzer bewundern kann, stapeln sich Gepäckberge. Die Bordküche und das Personal im Speisesaal leisten, Wellen hin oder her, einen Grosseinsatz. Wir sind froh, bereits beim Kaffee angelangt zu sein. Wie wir das geschafft hätten, fragt uns ein sichtlich nervöses Paar. „Gouverner, c’est prévoir“, lachen wir und trösten, der Service sei speditiv und bis Luzern würde die Zeit zum Essen noch lange reichen.
Unterdessen dampft die Uri vor dem Wind Richtung Brunnen zurück. In Sisikon könne er wegen des Sturms nicht anlegen, verkündet der Kapitän über den Lautsprecher. Vor Brunnen haben unterdessen die aufeinanderprallenden Winde aus dem Gersauer- und Urnersee die Wasseroberfläche in einen Hexenkessel verwandelt. An ein Anlegen am normalen Steg ist nicht mehr zu denken; der Föhn würde beim seitlichen Wegfahren die Uri aufs Ufer drücken, Erstmals verstehe ich jetzt, wieso es weiter westlich, gegen die Mündung der Muota zu, eine durch Mauern geschützte zusätzliche Anlegestelle gibt, den „Fönenhafen“ (so heisst er tatsächlich auf der Landeskarte). Mit scheinbar unverminderter Geschwindigkeit hält die Uri darauf zu und bremst erst, als sie sich hinter den Mauern vor Wind und Strömung in Sicherheit weiss.
Der Halt muss verlängert werden, um den in Brunnen wartenden Passagieren Zeit zu geben, zum Fönenhafen hinüber zu kommen. Dann fährt die Uri zügig rückwärts in den Hexenkessel zurück, stoppt und wendet sich der Station Treib auf der andern Seeseite zu.
Ein letztes Anlegemanöver in den Wellen, denn schon in Gersau ist die Wasseroberfläche ruhig und die Wirkung des Föhns kaum mehr spürbar. Unter strahlendem Himmel geht’s zurück nach Luzern. Dreimal treffen wir Schwesterschiffe an, zuerst die Unterwalden, dann die Schiller und schliesslich noch die Gallia, die Sprinterin unter den Dampfern des Vierwaldstättersees. (Der fünfte Dampfer, die Stadt Luzern, wird momentan auf der Werft generalüberholt.)
Dampfschiffe begrüssen sich jeweils bei der Vorbeifahrt mit langen Tönen aus der Dampfpfeife. Der sentimentalen Wirkung dieses Rituals kann man sich kaum entziehen. Der Austausch zwischen den stolzen Giganten bringt auch die übliche Reserviertheit der Schweizer zum Verschwinden.
Wir sitzen unterdessen zuhinterst auf dem Hauptdeck an der Sonne. Plötzlich reden alle mit allen. Ein freundlicher Stuttgarter, welcher jedes Dorf um den See und überhaupt die Schweiz weit besser zu kennen scheint als wir, bringt jeden zum Reden, sogar jenen Basler, welcher sich zuerst hinter seiner Bank zu verstecken versucht. Vielleicht ist es auch ein bisschen der gemeinsam erlebte Sturm auf dem Urnersee, der uns zusammengeschweisst hat. Mir kommt der letzte Satz von Beethovens Pastorale in den Sinn, das Allegretto mit der Bezeichnung „Hirtengesang. Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm”.
Und schliesslich, nach fast sechs Stunden, kehren wir in die Luzerner Bucht zurück. Bevor wir landen, verabschiedet sich der Kapitän von seinen Passagieren. Es tue ihm Leid, wegen des Sturms hätten wir 7 Minuten Verspätung, er bitte um Entschuldigung. – Nein, wir waren doch nicht auf dem Atlantik, wir waren mit dem Schweizer ÖV unterwegs.
(1) Die Dampfpfeife der Uri ist zu hören unter Dampfpfeife DS Uri