Wir sind auf der Welt, schon vor der Geburt. Diese Welt ist die Mutter. Als «Uteronauten» sind wir mit ihr durch die Nabelschnur verbunden. Und mit einem einzigen Schnitt durch diese Schnur treten wir ein in die aussermütterliche Welt. In ihm liegt das ganze philosophische Gesumse über «innen» und «aussen», Oberfläche und Tiefe, «Ich» und «Nicht-Ich» begründet.
Zeuge des «Urknalls» meiner Geburt
Der Bauchnabel ist die Urwunde, der sichtbare Überrest eines winzigen «Urknalls»: meiner Geburt. «Urknall» ist vielleicht nicht der richtige Begriff, denn er wurde ja neun Monate lang vorbereitet, angefangen mit der Fusion einer Samen- und einer Eizelle. Von da an spielt sich das wohl grösste Wunder der Natur ab: die Gastrulation, die Entwicklung zum vielzelligen Lebewesen. Der bekannte Embryologe Lewis Wolpert sieht in ihr den entscheidenden, schicksalshaften Schritt in der Ontogenese. Im Lauf dieses Prozesses bildet sich eine innere Schicht von Zellen gegenüber einer äusseren Schicht aus, ein – wie Wolpert bemerkt – viel wichtigerer Markstein als Geburt, Heirat und Tod. Womöglich handelt es sich um die bedeutsamste evolutionäre Innovation, die Entstehung komplexer Lebewesen.
Ist Gott ein Trickser?
Der Nabel ist mythologisch schwer vorbelastet. Christlich durch einen Erzwiderspruch. Die ersten Menschen – Adam und Eva – hatten keine Eltern. Aber dennoch werden sie fast immer mit Bauchnabel dargestellt. Adam und Eva bei Dürer zeigen sexy Körpermitten. Brauchte Gott doch insgeheim eine Nabelschnur? Ist er ein Trickster, wenn es von ihm heisst: «Da bildete Gott der HERR den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies ihm den Lebensodem in die Nase; so wurde der Mensch zu einem lebenden Wesen.» Jeder Mensch stammt von jemandem ab. Ist also Gott der grosse Niemand? Profaner dürfte die Erklärung sein, dass den Malern einfach nicht die Originale als Modelle zur Verfügung standen.
Der Bauchnabel als Strafe der Götter
In der antiken Mythologie zeugt der Nabel von der Strafe der Götter. Die Menschen hatten es gewagt, in den Himmel aufzusteigen. In einer berühmten Stelle von Platons «Symposion» (190d–191a) berät sich Zeus mit den anderen Göttern und kommt schliesslich auf die angemessene Sanktion: die Halbierung des Menschen. Ursprünglich war der Mensch ein «platonisches» Kugelwesen. Er hatte vier Hände, Beine, Ohren, zwei Gesichter und Schamteile. «Jetzt will ich einen jeden in zwei Hälften schneiden», sagte Zeus, «so werden sie schwächer sein und nützlicher für uns, weil sie dann zahlreicher sind.» Apollo erhielt den Auftrag, die Gesichter zur Schnittfläche – der heutigen Bauchseite – hin umzudrehen und die Wunden zu schliessen, indem er die Haut über die Bäuche zog und am Nabel zusammenband. Am Nabel liess er Falten zur Erinnerung an die Teilung zurück. Auf diese Weise erwachte im Menschen der Eros: «Und sie umarmten einander und umschlangen sich vor Begierde, wieder zusammenzuwachsen.» Die Nabelwunde ist das Symbol für ein verlorenes Einssein, das man nicht wieder erlangte. Liebe als das unerfüllbare Sehnen nach unserer non-binären «Kugelförmigkeit». Wie aktuell sind doch diese ollen Griechen!
Die Nabelschau
In einer anderen mythischen Anekdote will Zeus das genaue Zentrum der (flachen) Erde bestimmen. Er schickte dazu zwei Adler von entgegengesetzten Randpunkten los. Sie trafen sich in Delphi, dem Nabel der Welt. Ihn markierte ein eiförmiger Stein, der «Omphalos». Solche Weltmittelpunkte gab es vielerorts, in Rom, Istanbul, Bamberg, Jerusalem, Cusco, auf der Osterinsel. Zeichen für die wiederkehrende «Omphalomanie» des Menschen?
Womit wir bei der Nabelschau angelangt sind. So nennen wir meist abschätzig den allzu ausschliesslichen Blick auf sich selbst, die bis zum Narzissmus gesteigerte Selbstbezogenheit. Zum zeitgemässen Aufmerksamkeitsschacher dürfte auch das Bauchnabelpiercing gehören: Schau doch auf meine schöne Falte – das Zentrum der Welt!
Aber die Nabelschau hat seit alters eine respektablere Bedeutung: als «Omphaloskepsis». Sie stammt aus der Gebetspraxis byzantinischen Mönchstums. Zum Erreichen der spirituellen Ruhe sitzt der Mönch in einer bestimmten Haltung. Er konzentriert sich auf die Mitte seines Leibes und dabei hilft ihm die Fixierung auf den Bauchnabel. Die Übung ist auch im Yoga bekannt. Der Bauchnabel gilt als ein besonderer körperlicher Energiepunkt: Chakra. Die Fixierung auf ihn kann also beides bedeuten: die selbstbezogene subjektive Sicht des Narzissten und die weltbezogene subjektvergessene Sicht des Spiritualisten.
Nabelschnurblut
Die Nabelschnur versorgt den Embryo mit Stoffen und entsorgt Abfälle. Und auch nach der Geburt kann sie der Vorsorge dienen. Wenn die Gastrulation als Einbahnstrasse zur Ausdifferenzierung des Organismus führt, hinterlässt sie dennoch in der Nabelschnur unausdifferenzierte Blutstammzellen. Sie können sich zu verschiedenen Blutzelltypen entwickeln: in rote und weisse Blutzellen und in Blutplättchen. Man verwendet die im Restblut der Nabelschnur enthaltenen Stammzellen dazu, Kindern und Erwachsenen mit Leukämien und anderen Erkrankungen des blutbildenden Systems zu helfen. Die schnelle Verfügbarkeit des Nabelschnurblutes ist dabei ein bedeutender Vorteil gegenüber der weit aufwendigeren Transplantation von Stammzellen erwachsener Spender.
Geburtlichkeit
Der Bauchnabel erinnert an etwas, das die Philosophen «Geburtlichkeit» nennen. Wir sind abgenabelte Wesen. Ein schöner Gedanke. Denn abgenabelt zu sein bedeutet frei sein zu können. Entbunden ist das Gegenteil von gebunden. Ich finde den Begriff auch schöner als das Heideggersche Geworfensein, das doch aufdringlich an Ballistik erinnert. Wer «wirft» mich denn? Wir sind irgend einmal in der Welt angekommen. Wir sind Ankömmlinge. Hannah Arendt sprach vom «Neuankömmling». Sie meinte generell den Menschen als ein Wesen, das frei ist dadurch, dass es ankommen kann: «Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln.»
Nabelschnüre verknüpfen Generationen
Wenn wir uns erst einmal über unsere besondere Hautfalte zu beugen begonnen haben, dann wird auch unser Denken darüber sozusagen «gefaltet». Zurückgefaltet. Unserem Blick eröffnet sich ein neuer Horizont in der Vergangenheit. Mein Bauchnabel verbindet mich nicht nur mit meiner Mutter, mit meiner Elterngeneration, sondern auch mit meinen Grosseltern und Grossgrosseltern – zu schweigen von all jenen anonymen Vorfahren, die im unvordenklichen Dämmer der Evolution verschwinden: eine generationenverbindende mütterliche Girlande von Nabelschnüren, an der ich hänge.
Der «Bauchnabel» des Universums
Ich sprach vom «Urknall» der Geburt. Der Urknall ist ein astrophysikalischer Begriff. Man kann ihn auch omphaloskeptisch betrachten. Um die Metaphorik jetzt ziemlich zu strapazieren, könnten wir sagen, dieser Urknall sei der «Bauchnabel» des Universums, Residuum der kosmischen «Geburt», als das Universum sich vom Nichts ins Sein «abnabelte» (fragen wir jetzt nicht nach dem «Uterus»). Bringe ich beide, meinen kleinen und den grossen Urknall ins gleiche Bild, dann ergreift mich ungläubig staunender Schauder, dass es mich gibt. Dieses Nichtsartige und Einzigartige zugleich. Nach 13,7 Milliarden Jahren seit dem Urknall, 4,5 Milliarden Jahren seit der Entstehung der Erde, 4 Milliarden Jahren seit dem Auftauchen von Einzellern und 200’000 Jahren seitdem die ersten «modernen» Menschen aufrecht über den Erdboden streiften und sich mit Lauten zu verständigen begannen – mehr noch: die Welt zu verstehen versuchten.
Hier versagt der Verstand ganz einfach. Und nur, weil er auf den eigenen Nabel schaut.