Die Demonstrationen und Tumulte in Südirak, die seit dem Juli unvermindert andauern, haben in der vergangenen Woche einen Höhepunkt erreicht. Die Stadt Basra wirkt als Epizentrum, von dem die Bewegung ausstrahlt. In der vergangenen Woche haben zwölf Demonstranten ihr Leben verloren. 50 wurden verwundet, wie das irakische Innenministerium bekannt gab. Seit Beginn der Bewegung im Süden wurden 24 Todesopfer gezählt.
Kein Trinkwasser
Die jüngste Welle des Zorns wurde dadurch ausgelöst, dass in Basra 30’000 Personen hospitalisiert werden mussten, weil sie verunreinigtes Wasser getrunken hatten. Reines Wasser ist nur in Flaschen zu haben, für die man teuer bezahlen muss. Die Wasserreinigungsanlagen stehen still, teils weil es an Elektrizität fehlt, um sie zu betreiben, teils weil sie nicht mehr funktionsfähig sind. Die Wut der Demonstranten richtet sich gegen „die Politiker“, denen sie – nicht ohne Grund – vorwerfen, sie seien alle korrupt und steckten die Staatsgelder in die eigenen Taschen.
Diese Staatsgelder stammen beinahe ausschliesslich von den Erdölfeldern, deren wichtigste und ergiebigste im irakischen Süden liegen. Das Erdölministerium hatte im vergangenen August erklärt, die Ölförderung habe in diesem Monat einen Höhepunkt von 12 Millionen Barrels erreicht. Dies habe 7,7 Milliarden Dollars eingebracht. Die Demonstranten sagen, sie hätten nichts von diesen Geldern gesehen.
Sofort nach Ausbruch der Unruhen hatte sich der amtierende Ministerpräsident, Haidar al-Abadi, persönlich nach Basra begeben und dort von Milliarden gesprochen, die für Basra zur Verfügung gestellt würden. Auch davon, so die Demonstranten, keine Spur!
Der wichtigste und einflussreichste Ayatollah des Iraks, Ali Sistani, hat für die Demonstranten Partei ergriffen. Er liess am vergangenen Freitag durch seinen Sprecher verkünden, eine neue Regierung müsse sofort gebildet werden. Sie habe aus Technokraten, nicht aus Politikern zu bestehen und müsse in der Lage sein, die Infrastrukturprobleme im Süden,vor allem die Versorgung mit Trinkwasser und Elektrizität, sofort anzupacken und zu meistern.
Wut auf Parteien und Politiker
Die Wut der Demonstranten auf „die Politiker“ aller Ausrichtungen zeigt sich darin, dass sie die Sitze sämtlicher Parteien in Basra und vielerorts auch in anderen Provinzhauptstädten angegriffen und niedergebrannt haben. Auch das iranische Konsulat in Basra ging in Flammen auf, wobei die dortigen Angestellten entkamen, weil sie zuvor evakuiert worden waren. Dies hinderte den iranischen Botschafter in Bagdad nicht daran zu erklären, die Demonstranten seien Agenten, die von den Amerikanern, den Zionisten und gewissen arabischen Staaten aufgestachelt und eingesetzt würden. Auf dem Flugplatz von Basra gingen drei Mörsergeschosse nieder. Herkunft unbekannt, niemand wurde verletzt.
Die Geschehnisse im Süden betreffen sowohl die Parteien, die gegenwärtig in Bagdad versuchen, eine Koalitionsregierung zu bilden, wie auch jene, die zurzeit abseits stehen und beim Zustandekommen einer Koalition die Opposition bilden werden. Die Wahlen hatten im Mai dieses Jahres stattgefunden. Doch bisher ist es nicht zu einer Regierungsbildung gekommen. Haidar al-Abadi steht nach wie vor der Übergangsregierung vor, die im Amt bleibt, bis eine neue Exekutive zustande kommt.
Al-Abadi und Muqtada Sadr sind in der Sondersitzung zusammengestossen. Sadr, der für radikale Reformen werbende schiitische Geistliche und Patron aller schiitischen Elendsquartiere, hat die meisten Abgeordneten im neuen Parlament hinter sich. Sein Parteibündnis, an dem auch die irakischen Kommunisten beteiligt sind, und das von al-Abadi, das die drittstärkste Kraft bildet, hatten angekündigt, sie hätten eine grosse Koalition mit einer stabilen Mehrheit formiert. Doch offenbar hat sich dieses Bündnis noch nicht darauf einigen können, wer welche Ministerposten erhalten soll.
Muqtada Sadr gehört nicht zum Parlament und kann daher nicht Ministerpräsident werden. Al-Abadi geht darauf aus, seine gegenwärtige Position als Ministerpräsident zu behaupten. Das neue Parlament war am vergangenen Montag zum ersten Mal zusammengetreten. Es war ihm aber nicht gelungen, einen Sprecher zu wählen. Die nächste Parlamentssitzung war ursprünglich für den 15. September geplant.
Sondersitzung des Parlaments
Doch der Druck, der von den Demonstranten im Süden des Landes ausgeht und den auch Sadr unterstützt, war gross genug, um die gewählten Parlamentarier zu zwingen, eine Sondersitzung einzuberufen. Sie soll sich der Forderungen der Demonstrationen annehmen.
In dieser Sitzung vom gestrigen Samstag gerieten die beiden Machtblöcke aneinander, die zuvor verkündet hatten, sie wollten zu einer Koalition zusammentreten. Die Sadr-Anhänger, die unter dem Namen, „As-Sa’yrun“ (die Voranschreitenden) zusammengeschlossen sind, forderten in der Sondersitzung sofortige Massnahmen, um den Forderungen des Südens nachzukommen oder den sofortigen Rückritt der Übergangsregierung und al-Abadis.
Al-Abadi wiederum sprach von notwendigen Schritten, um Ruhe und Sicherheit wiederherzustellen und gewalttätige Sabotage zu verhindern. Das sogenannte „Gemeinsame Kommando“, das bisher vor allem in Mosul gegen den IS gekämpft hatte und aus Truppen von Sonderpolizei und Spezialeinheiten der Armee besteht, ist nun für den Süden zuständig. Für Basra wurde ein Ausgehverbot sowie ein Verbot von Demonstrationen und „Kollektivreisen“ ausgesprochen. Die Demonstranten kehren sich nicht daran.
Kampf um Arbeitsplätze
Zwar hat al-Abadi im Parlament erklärt, er habe die Sicherheitskräfte angewiesen, scharfe Munition zu vermeiden. Doch die Toten sprechen eine andere Sprache. Zwischen den Sicherheitskräften und den Demonstranten besteht ein grundsätzlicher Gegensatz. Die Sicherheitskräfte haben staatlich garantierte Arbeitsplätze inne – Dinge, die den Demonstranten fehlen und die sie dringend begehren. Die Sicherheitskräfte verteidigen neben der staatlichen auch ihre persönliche Position gegenüber „gewalttätigen“ Jugendlichen und jungen Männern, die solcher Privilegien entbehren.
Von den Ölfeldern im Süden, die oft durch ausländische Erdölfirmen im Auftrag des irakischen Erdölministeriums betrieben werden – auch die russische „Luke Oil“ gehört dazu –, mussten die ausländischen Techniker evakuiert werden, weil sie der Wut der Demonstranten besonders ausgesetzt sind. Diese sehen die Ausländer als Inhaber von Arbeitsplätzen, die eigentlich Iraker einnehmen sollten. Die „Kollektivreisen“, die nun verboten sind, waren in vielen Fällen Expeditionen der Demonstranten, die auszogen, um Ölfelder stillzulegen. Auch der Haupthandelshafen des Iraks, Umm Qasr südlich von Basra, wurde in der vergangenen Woche durch Demonstranten blockiert.
Kontraproduktive Wirkung des Aufruhrs
Ob das Ultimatum, das die Sadr-Kräfte nun dem amtierenden Ministerpräsidenten gestellt haben, zum Zusammenbruch der kurz zuvor angekündigten Koalitionspläne führt, bleibt abzuwarten. Wenn dies geschieht, dürften ironischerweise die pro-iranischen Kräfte der sogenannten Fatah- (Eroberungs-)Allianz zum Zuge kommen und ihrerseits eine Regierungskoalition aufstellen können.
Käme es dazu, so hätten die südlichen Demonstranten genau das bewirkt, was sie besonders hassen: ein Regime der pro-iranischen Politiker, die mit den schiitischen Milizen eng verbunden sind und im Süden des Landes über Machtzentren verfügen.