In der gegenwärtigen Krise scheint es zum guten Ton kritischen Zeitgenossentums zu gehören, über Experten im Allgemeinen, über Quantifizierung, Statistik, Algorithmeneinsatz im Besonderen herzuziehen. Nachgerade ein Lehrbeispiel hat die Politologin Regula Stämpfli kürzlich in der NZZ (9.5.2020) geliefert: „Die neuen digitalen Herren zerstören mittels der ‚Algorithmisierung der Welt’ empirische Realitäten mit derart präzise berechneter Schlüssigkeit, dass der Unterschied zwischen Fiktion und Realität für die meisten von uns nicht mehr erkennbar ist. (…). Datenpakete ‚beweisen’ gegenüber der Wirklichkeit bald jene, bald andere Meinungen, so dass sie oft gar nichts mehr ‚wirklich’ erklären.“ Und die Unwucht ihres ungestümen Rundumschlags treibt Frau Stämpfli ziemlich aus der Balance: „Die Kombination von monokausalen Narrativen, inklusive virologisch basierter Datenhoheit, konstruiert ein ‚Zeitalter der totalen Gewissheit’, die zum fast vollständigen Wegfall klassischer Urteilskraft gegenüber Richtig und Falsch führt.“
An den Bemerkungen ist zumindest eines richtig: die Warnung vor der exzessiven Beanspruchung eines bestimmten Denkmodells oder einer empirischen Methodologie. Aber das braucht man den „neuen digitalen Herren“ kaum anzumahnen. Sie lernen nämlich gerade aus der gegenwärtigen Krise sehr viel über Grenzen und Schwächen ihrer Werkzeuge. Schauen wir also kurz etwas genauer auf ein paar von Frau Stämpflis tendenziösen Unterstellungen.
Zeitalter der Ungewissheit
Zunächst das „Zeitalter der totalen Gewissheit“ – das Gegenteil ist der Fall. Die „neuen digitalen Herren“ konstruieren bestenfalls Modelle. Und in diesen Modellen rechnen sie mit Ungewissheiten, sprich Wahrscheinlichkeiten. Deren Berechnungen führen nicht zu „schlüssigen“ Konsequenzen, sondern zu gewichteten Optionen. Kein seriöser Experte – also etwa Mathematiker, Softwaredesigner, Epidemiologe, Sozialpsychologe, nicht zuletzt: Wissenschaftsphilosoph – gibt ein „schlüssiges“ Urteil ab. Sein Urteil steht immer unter dem Konditional „wenn, dann“, was wohlgemerkt nicht bedeutet, dass er unschlüssig wäre. Er weiss vielmehr ganz bewussst mit seiner Ungewissheit umzugehen, sie „präzise zu berechnen“. Gewissheit ist etwas für Ideologen, Ignoranten und Idioten – die Schnittmenge ist nicht klein.
Datenpakete „beweisen“ überhaupt nichts. Vielleicht wollte Frau Stämpfli mit ihren Gänsefüsschen dies zum Ausdruck bringen. Das genügt aber beim Begriff des Beweises nicht, der erkenntnistheoretisch so viel zu tragen hat. Beweisen kann man in einem Modell bestimmte Sätze aus bestimmten Annahmen. Hat man aber einen Satz bewiesen, heisst das nicht notwendig, dass er auf die Wirklichkeit zutrifft. Es kommt darauf an, in welches Modell man ihn einbettet. Im simplen Modell der Kuh als einer Kugel kann ich exakt beweisen, dass das Verhältnis ihres Volumens zu ihrer Oberfläche mit dem Drittel ihres Radius’ zunimmt. Was über die Kuh wenig aussagt.
Ein Blick auf die reale Kuh drängt mich schnell dazu, das Modell zu verbessern, detailreicher zu gestalten, vielleicht durch ein anderes zu ersetzen. Genauso gehen auch epidemiologische Modellbauer vor. Sie machen bestimmte Annahmen über den Verlauf und die wichtigen Parameter einer Epidemie, sie ziehen Schlüsse daraus und prüfen, inwieweit die verfügbare Evidenz diese Annahmen bestätigt.
Dabei gibt es zwei Hauptkriterien der Beurteilung: Wie gut beschreibt das Modell die reale Lage? Und: Wie gut eignet es sich für Prognosen? Beschreibung und Voraussage sind die erkenntnistheoretischen Seiten ein und derselben wissenschaftlichen Medaille: die repräsentationale und die prognostische. Eine gute Beschreibung der Realität eignet sich in der Regel auch gut für die Prognose. Aber eine gute Prognose hängt nicht notwendig von einer guten Beschreibung ab. Das heisst, es gibt durchaus Instrumente der Voraussage, die indes kaum dem Verständnis der realen Situation dienen: Kristallkugeln.
Die neue Big-Data-Empirie
Das könnte mit „Zerstörung empirischer Realitäten“ gemeint sein. In potenten Prognosewerkzeugen schlummert immer die latente Versuchung, nur noch dem Werkzeug Beachtung zu schenken und eine multidimensionale Analyse der realen Lage zu vernachlässigen. Das kennt man hinlänglich von den mathematischen Modellen in der Ökonomie. Aber dreschen wir jetzt nicht auf die armen Wirtschaftskabbalistiker ein. Denn bekanntlich sieht jeder, der nur über einen Hammer verfügt, in allem letztlich nur noch Nägel. Notorisch ist das „Bestätigungs-Bias“, dem eigenen Modell zu sehr zu vertrauen und die Daten dem Modell anzupassen.
Auch hier empfiehlt sich ein genauerer Blick auf die aktuelle Praxis. Das Problem ist nicht die „Zerstörung empirischer Realitäten“, sondern die neue Empirie, die sich in vielen Disziplinen als „evidenzbasiert“ etabliert hat. Ob wir mit Teleskopen den Nachthimmel abtasten, mit Detektoren neue Partikel im Large Hadron Collider suchen oder eine Krankheit wie Krebs studieren – immer müssen wir uns auf riesige Datenmengen abstützen. Aber die Dynamik der Sterne lesen wir nicht aus noch so riesigen Datenmengen heraus; das Higgsteilchen wurde nicht aus Datenkorrelationen entdeckt; Krebs verstehen wir nicht aus blossen Statistiken.
Wir brauchen Theorien, sonst droht die Arbeit des Verstehens in der Datenschwemme zu ersticken. Ich sprach von der „guten“ Beschreibung der Realität. Eine solche Beschreibung braucht eine gute Theorie. 2016 erschien in den altehrwürdigen „Philosophical Transactions of the Royal Society“ ein Artikel von Bioinformatikern, der Fanalcharakter hat: „Big data need big theory too“. Darin bekräftigten die Autoren die alte Einsicht Kants: Theorie ohne Evidenz ist leer; Evidenz ohne Theorie ist blind. Ein radikaler Datenpositivismus ist der Tod des Wissens. Die Autoren warnen ausdrücklich davor, durch blosses Datensammeln und -analysieren auf eine vormoderne Entwicklungsstufe zurückzufallen.
Wissenschaft im „nachklassischen“ Stadium
Man kann epidemiologischen Modellen überdies nicht vorwerfen, sie beschrieben die Dynamik einer Infektion im virologischen Narrativ. Das ist ihre Aufgabe. Sie sind, nebenbei bemerkt, nicht notwendig „monokausal“. Und kein vernünftiger Virologe beansprucht „Hoheit“ in dem Sinne, dass er seine Geschichte für die einzig verbindliche hält. Heute setzt sich allmählich die Einsicht durch, dass Pandemien und andere relevante „Pan-Ereignisse“, mit denen wir es künftig zu tun bekommen werden, „Hybride“ aus Natur, Gesellschaft, Geschichte, Wirtschaft, Technik, Politik, Ökologie sind, und schon deshalb keine Erklärungshegemonie dulden. Im Übrigen können virologische Gründe allein nie einen politischen Entscheid über Massnahmen zur Epidemieeindämmung begründen.
Dieser hybride Charakter der Probleme führt auch zum „fast völlige(n) Wegfall der klassischen Urteilskraft gegenüber Richtig und Falsch“. Ich interpretiere das so: Wir befinden uns in einem „nachklassischen“ Stadium. Und das heisst – ich wiederhole es –, dass man mit Wahrscheinlichkeiten und nicht mit Wahrheiten zu rechnen hat. Dazu benötigen wir ein Erwägungsvermögen, das mit Ungewissheiten umzugehen lernt, mit kognitiven Voreingenommenheiten, Schätzungsfehlern, Trugschlüssen.(*)
Urteilskraft gegenüber Richtig und Falsch charakterisiert heute eher den Besserwisser, einen Typus, der gerade auch unter Medizinern aufzukommen scheint. So entblödete sich ein französischer Arzt unlängst nicht, über die „Diktatur der Methodologisten“ zu wettern – wo für eine effiziente Medizin nichts dringlicher wäre als methodologisch reflektierte, verlässliche Evaluierungsverfahren.
Ernsthafte Kritik ist dringend
Der Science-Fiction-Autor Herbert G. Wells prophezeite vor hundert Jahren: „Statistisches Denken wird eines Tages für mündige Staatsbürger ebenso wichtig sein wie die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben.“ Das ist vielleicht gut gemeint, auch ein bisschen schulmeisterlich. Hand aufs Herz: Wer hat die Flut an statistischen Zahlen und Diagrammen, die in den letzten Monaten auf uns einstürzte, wirklich verstanden? (Ich jedenfalls mühte mich redlich ab.)
Hier muss die Kritik ansetzen. Eine ernsthafte Analyse epidemiologischer Modellbildung und ihrer Vermittlung wird umso nötiger sein, als sehr wahrscheinlich weitere globale Kalamitäten auf uns lauern. Was wir sicher nicht brauchen, ist ein Bashing mit dem Schwingbesen, das aus der mühsamen Arbeit von Mathematikern, Softwaredesignern, Epidemiologen, Sozial- und Kognitionspsychologen den Schaum einer Pauschalkritik schlägt.
(*) In diesem Zusammenhang sei die Website „Unstatistik des Monats“ empfohlen.