In New Yorks 9. Distrikt, der Teile von Brooklyn und Queens umfasst, gibt es dreimal mehr registrierte Demokraten als Republikaner. Seit 1922 hatte die demokratische Partei den Abgeordnetensitz im Distrikt nicht mehr verloren. Doch Mitte September geschah bei einer Nachwahl das Wunder: Der demokratische Kandidat David Weprin, ein orthodoxer Jude und verlässlicher Freund Israels, verlor gegen den Republikaner Bob Turner, einen Katholiken und früheren TV-Produzenten, der noch nie in Israel gewesen war.
Ultraorthodoxe Juden stimmen für Katholiken
En bloque hatten die ultra-orthodoxen Juden des Distrikts, die Haredim, auf Empfehlung ihrer Rabbiner für den Katholiken Turner gestimmt und so, rund ein Jahr vor der Präsidentenwahl, den Demokraten eine böse Überraschung beschert.
Offenbar hatte es auch nicht genützt, dass David Weprin im Wahlkampf Präsident Obamas Haltung Israel gegenüber als „skandalös“ bezeichnete. Ausser seiner Verbindung zu einem Präsidenten, dem rechtsjüdische Kreise mangelnde Unterstützung Israels vorwerfen, dürfte dem Demokraten auch der Umstand geschadet haben, dass er 2010 bei einer Abstimmung im Parlament des Staates New York gleichgeschlechtliche Ehen befürwortet hatte, ein Votum, das Rabbinern im 9. Bezirk ein Dorn im Auge war.
Ein neuer Trend?
Einzelne Kommentatoren werteten den Ausgang der New Yorker Wahl als „Weckruf“ an die Adresse Obamas, der sich nun auch landesweit der Stimmen jüdischer Wähler nicht mehr sicher sein könne. 2008 hatten in den USA noch acht von zehn Juden für den Präsidenten gestimmt. Seit der Wahl Jimmy Carters 1980 haben alle demokratischen Präsidentschaftskandidaten unter jüdischen Wählern erkleckliche Mehrheiten gewonnen.
Ist dieser Trend nun gebrochen, muss Barack Obama 2012 tatsächlich um die Stimmen jüdischen Wähler fürchten? Hat der Präsident, wie eine Kommentatorin auf der Webseite „The Daily Beast“ schrieb, „ein jüdisches Problem“? Die Meinungen gehen auseinander.
Umstrittene Israel-Politik
Republikaner geben sich, verständlicherweise, optimistisch. „Dieser republikanische Sieg in einem überwiegend demokratischen Distrikt ist ganz klar Ausdruck eines Problems, das sich Präsident Obama innerhalb der jüdischen Gemeinschaft stellt“, liess die Republican Jewish Coalition nach der Wahl verlauten: „Bob Turners Sieg wird 2012 gravierende Folgen für Wahlkämpfe in Staaten mit grossen jüdischen Gemeinden wie Florida, Ohio und Pennsylvania haben.“
Im „Wall Street Journal“ schrieb Dan Senior, einst Berater der Regierung von George W. Bush, der Ausgang der Wahl in New York sei ein erstes Indiz für die Auswirkung von Barack Obamas Politik gegenüber Israel. Der Präsident sei für eine Reihe falscher politischer Entscheide verantwortlich und bediene sich einer Anti-Israel-Rhetorik. Auch das jüdische Magazin „Tablet“ schloss, Israel sei jenes Thema gewesen, das die Wähler in New Yorker Wähler in erster Linie beschäftigte.
Unterschiedliche Meinungen
Eliot L. Engel, ein demokratischer Abgeordneter aus New Yorks 17. Distrikt, schloss sich nach der Nachwahl der Einschätzung an, wonach Amerikas Juden von Barack Obama nicht mehr so überzeugt seien wie 2008. Er höre, sagte Engel gegenüber der „New York Times“, etliche unzufriedene Stimmen aus den Reihen seiner Wähler, was die Politik der Regierung in Washington Israel gegenüber betreffe: „Er (Obama) wird (2012) nach wie vor die Mehrheit der jüdischen Stimmen gewinnen, aber es würde mich nicht wundern, wenn dieser Anteil um zehn bis 20 Prozent sinkt.“
Engel hält es vor allem für problematisch, dass der Präsident beide Seiten, Israelis wie Palästinenser, für den Stillstand im Friedensprozess verantwortlich macht – eine Gleichsetzung, die vielen jüdischen Wählern missfalle.
Mögliche wirtschaftliche Gründe
Solchen Einschätzungen widerspricht der liberale Kolumnist Eric Alterman. Er erinnert daran, dass die meisten amerikanischen Juden säkular seien und im Gegensatz zu ihren orthodoxen Glaubensgenossen sowohl gleichgeschlechtliche Ehen wie Gesetze befürworteten, welche die Abtreibung erlauben. Zwar sei Israel für diese Juden ein Thema, aber längst nicht das wichtigste. Alterman bezweifelt auch, dass eine Mehrheit der Juden mit Barack Obamas Israel-Politik unzufrieden sei.
Der Kolumnist zitiert eine Umfrage der liberalen jüdischen Lobby „J Street“, wonach 71 Prozent aller amerikanischer Juden befürworten, dass die USA auf beide Seiten im Nahost-Konflikt „Druck ausüben“ soll. Eine Mehrheit der Befragten stimmte auch der Aussage zu, wonach eine amerikanische Regierung Meinungsverschiedenheiten mit Israels Exekutive öffentlich austragen soll, falls es dafür gute Gründe gibt.
Eric Alterman meint, dass am Ende nicht jüdische Themen die Wahl in New York entschieden hätten, sondern dass der miserable Zustand der US-Wirtschaft, „der sprichwörtliche Elefant im Raum“, die Wähler den Kandidaten der demokratischen Partei habe ablehnen lassen.
Wahlkampf-Instrumentalisierung
In der Tat beschäftigen einer aktuellen Umfrage zufolge in Amerika Themen wie die Wirtschaft, die Zukunft der Alters- und der medizinischen Versorgung jüdische Wähler stärker als Israel. Das, so eine Interpretation, verheisse für die Republikaner, die immer mehr nach rechts rückten, nächstes Jahr wenig Gutes, was die Stimmen liberaler Juden betrifft. Trotzdem glaubt Daniel Levy, ein früherer Berater der israelischen Regierung und Architekt der Genfer Initiative (des Entwurf eines Abkommens über den endgültigen Status Israels und Palästinas), dass die republikanische Partei 2012 versuchen wird, Barack Obamas Israel-Politik für den Präsidentschaftswahlkampf zu instrumentalisieren.
Levy erinnert an eine Äusserung des US-Präsidenten 2010 vor der Uno, welche die Palästinenser „Obamas Versprechen“ nennen und die republikanische Kritiker im Kongress zum Anlass nahmen, den Präsidenten der Feindschaft gegenüber Israel zu bezichtigen. Obama hatte damals verlauten lassen, dass es innert eines Jahres möglich sein könnte, dass die Vereinten Nationen ein neues Mitglied hätten, „ein unabhängiges, souveränes Palästina, das mit Israel in Frieden lebt“.
Republikanische Allianz mit Israels Hardlinern
Der Israeli glaubt, die Republikaner würden Barack Obama im Präsidentschaftswahlkampf vorwerfen, Amerikas Feinde zu schonen und dessen Alliierte zu schwächen sowie gute Beziehungen unnötig aufs Spiel zu setzen: „Obamas Problem im Kongress ist der Umstand, dass es dort fast keine realistisch politisierenden, internationalistisch gesinnten Republikaner der alten Schule mehr gibt, sondern nur noch Parteigänger, die sich zu hundert Prozent hinter Israels extremste Positionen stellen.
Und weil die Demokraten im Kongress vermeiden wollen, dass man ihnen ihre Haltung Israel gegenüber vorwirft, schliessen sie sich dem Standpunkt der Republikaner an. Das heisst, dass für den Präsidenten immer weniger Spielraum zum Manövrieren übrig bleibt.“
Obama passt sich dem Druck an
Das zeigte sich diese Woche wohl bei Barack Obamas Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York, als er den Ambitionen Palästinas, von der Uno als Staat anerkannt zu werden, eine unmissverständliche Absage erteilte. „Frieden wird nicht aufgrund von Äusserungen und Resolutionen der Uno zustande kommen“, bekräftigte der der US-Präsident zur Enttäuschung vieler Anhänger im eignen Lager. Obama, so einer seiner Kritiker, habe sich ganz klar als Bewahrer des Status quo zu erkennen gegeben – nicht zuletzt auf Druck Israels und unter Verweis auf mögliche Verluste unter Vertretern seiner Basis.
Als Indiz für den geringeren Manövrierraum des Weissen Hauses mag auch gelten, dass die Republikaner im Kongress, mit Unterstützung einiger Demokraten, angedroht haben, Amerikas Hilfe zu Händen der palästinensischen Regierung in der Höhe von jährlich 500 Millionen Dollar zu streichen, falls die Uno-Generalversammlung dem Status Palästinas als einer Beobachter-Nation (auf selber Stufe wie der Vatikan) zustimmt.
Extremistischer Antrag im Kongress
Joe Walsh, ein Abgeordneter der Tea Party, geht noch einen Schritt weiter und hat eine Resolution eingebracht, wonach im Gegenzug für die Bemühungen der Palästinenser im Rahmen der Uno um einen eigenen Staat Israel das Recht erhalten solle, die ganze Westbank zu annektieren.
„Wir werden keinen Frieden haben“, sagte Walsh in Washington, „solange die andere Seite nicht realisiert, dass sie es mit Stärke zu tun hat, dass Israel und die USA nicht nachgeben werden.“ Seine Kollegen in Washington braucht der stolze Abgeordnete aus Illinois’ 8. Distrikt unter Umständen nicht mehr zu überzeugen. Als Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu im Frühling bei einem stark beachteten Auftritt im Kongress Barack Obamas Friedenvorschläge für den Nahen Osten kritisierte, unterbrachen ihn Amerikas Volksvertreter nahezu drei Dutzend Mal mit stehenden Ovationen. Böse Zungen nennen den US-Kongress denn auch „israelisch besetztes Territorium“.