„La guerra è finita. L‘Italia si rimette in moto“, heisst es zehn Jahre nach Kriegsende in einem Michelin-Reiseführer. Erst in den Fünfzigerjahren erwacht das Land so richtig aus dem Trauma des Zweiten Weltkriegs. Jetzt reisen die Italiener wieder und besuchen sich in Nord und Süd. Der „Topolino“ wagt sich wieder auf die holprigen Strassen – ab 1957 auch der Fiat "Cinquecento" mit luftgekühltem Heckmotor.
Die Wirtschaft beginnt wieder zu drehen. Das Land fasst Mut: Aufbruchstimmung. 1960 dreht Fellini „La dolce vita“, ein Symbol des neuen italienischen Selbstbewusstseins.
Symbol der italienischen Einheit
In diese Zeit fällt der Bau der „Autostrada del sole“: Ausdruck des italienischen Aufschwungs. Die „Autosole“ ist vor allem auch Symbol der italienischen Einheit. Dank dieser 760 Kilometer langen Arterie zwischen Mailand und Neapel rückt das Land zusammen. Italien war nie ein homogenes Gebilde (und ist es auch heute nicht). Doch die „Sonnen-Autobahn“ gilt als Klammer zwischen Nord und Süd.
Mit dem Bau wird am 19. Mai 1956 begonnen. Die Autosole führt durch sechs italienische Regionen, über 400 Brücken und Viadukte und durch 38 Tunnels. 74 Arbeiter kommen beim Bau ums Leben. Das Bauwerk wird am 4. Oktober 1964 von Staatspräsident Antonio Segni eröffnet. Er kommt nicht im Cinquecento zur Einweihung, sondern – standesgemäss – mit einem Lancia Flaminia 335 presidenziale. Kosten des Bauwerks: 272 Milliarden Lire (heute etwa 140 Millionen Euro). Die Turiner Zeitung "La Stampa" nennt das Bauwerk damals "una splendida realtà".
Mit dem Borgward an italienische Strände
Schon damals ist die Autobahn kostenpflichtig. Barrieren und Alarmanlagen gibt es noch nicht. Nette Beamte in Uniformen begrüssen die Autofahrer und ziehen einige Lire ein.
Auch nördlich der Alpen wird die Autostrada del Sole schnell zu einem Traum – dem Traum vom Süden, von Wärme, von gutem Essen, von Zitronen- und Orangenbäumen, von malerischen Städten und belle ragazze. Mit VW Käfer, Borgward und DKW-Dreizylinder holpern die sonnenhungrigen Nordländer durch die Schweiz und stossen bei Mailand auf das Wunderwerk.
Vom Traum zum Trauma
Doch der Traum – das ist lange her. Längst hat sich die Autosole zu einem Trauma für viele entwickelt. Kilometer lange Staus, selbst tief in der Nacht, Unfälle, Lastwagen und kein Ende. Die Fahrt in den Süden wird oft zum Albtraum.
Vor allem auf einer Strecke: beim Überqueren des Apennins zwischen Bologna und Florenz. Bis zu 90‘000 Autos pro Tag zwängen sich auf dieser gut 60 Kilometer langen Fahrt über den Pass, unter ihnen 25‘000 Lastwagen und Busse. Das sind fast fünf Mal mehr als durch den Gotthard-Strassentunnel verkehren. Der Übergang über den Apennin ist das kritischste Teilstück des riesigen italienischen Autobahnnetzes.
Unfälle, Staus
Hier manifestiert sich heute, dass die Autobahn über 50 Jahre alt ist, gebaut für kleine, schwache Autos. Die Kurven am Apennin sind eng und schlecht ausgebaut. Man fährt lange, lange Strecken über bedrohende Viadukte und durch Tunnels. Italiener sprechen von der „Strasse der hundert Brücken“. Auf einzelnen Viadukten stehen oft dicht gedrängt bis zu zwanzig 40-Tönner. Wer das italienische Verkehrsradio 103,3 einschaltet, hört täglich von Unfällen auf dieser Strecke. Der Verkehr steht mindestens zwei Mal pro Tag vor dem Kollaps – oder kollabiert ganz.
Während der Ferienzeit im Juli und August sind starke Nerven gefragt. Dann schleppen die Nordländer noch ihre Wohnmobile über den Berg. Auch immer mehr Italiener fahren mit Campers in die Ferien, die sie für einige Tage mieten; die teuren Hotels können sich viele nicht mehr leisten.
Jetzt winkt Besserung
Doch jetzt soll alles besser werden. Die jetzige Ferienzeit ist vorerst die letzte mit stundenlangen Staus. Denn bald gibt es eine zweite Autostrada del sole, eine Parallelautobahn über den Berg.
Innerhalb von elf Jahren haben die Italiener eine 62,8 Kilometer lange neue, hochmoderne Autobahn über den Apennin gezogen. Das war kein Kinderspiel. Der Berg stellte Ingenieure und Arbeiter vor riesige Probleme. Das Gestein ist brüchig. Um die Brückenpfeiler in den unruhigen Untergrund zu rammen, war höchste Ingenieurskunst gefragt. Überall einstürzende Höhlen, überall Wasser- und Gas-Adern. Schon wurde der Teufel an die Wand gemalt und behauptet, in den Tunnels von Sparvo und Val di Sambro drohe Einsturzgefahr. Die Ingenieure wiesen den Vorwurf energisch zurück.
Doppelt so teuer
Auch das neue Teilstück, das fast parallel zum bisherigen verläuft, besteht aus vielen Tunnels und vielen Brücken. Die bisherige Autobahn überquert den Apennin auf einer Höhe von 726 Metern über Meer. Die neue Autobahn wird dank eines richtungsgetrennten 8,6 Kilometer langen Basistunnels auf höchstens 490 Metern liegen.
Die Kosten des Bauwerks waren auf 3,5 Milliarden Euro veranschlagt. Heute steht fest: Das Bauwerk kostet genau das Doppelte: 7 Milliarden. Unerwartete geologische Probleme, Planungsfehler - und natürlich die Korruption - tragen zur Verteuerung bei.
Einweihung im Herbst
Man nennt die neue Autobahn „Variante di Valico“ („Pass-Variante“- valico = Pass). Die Idee für eine solche Parallelautobahn kam schon 1985 auf. Doch bürokratische und gesetzliche Hindernisse legten die Projektarbeiten lahm. Das Gesetz 492 verbot ganz einfach den Bau neuer Autobahnen. 1996 warf die Regierung Prodi die Verordnung über den Haufen. Auch Berlusconi machte sich später stark für das neue Bauwerk.
Die Arbeiten am 43 Kilometer langen kritischen Herzstück über den Berg, zwischen den Regionen Emilia-Romagna und Toskana (zwischen La Quercia im Tal bei Rioveggio und Barberino) haben 2004 begonnen. Noch in diesem Jahr soll der neue Übergang eingeweiht werden. Die neue Autobahn ist zum Teil zwei-, drei- oder gar vierspurig. Sie führt zwei Mal unter dem alten Trassee hindurch. Die bisherige Strecke wird auf drei Spuren ausgebaut.
Prunkstück italienischer Baukunst
Die Autobahnbauer erklären, die Automobilisten hätten künftig die Wahl, auf der alten oder der neuen Autobahn den Apennin zu überqueren. In Blogs an die lokalen Zeitungen wird empfohlen, eine der beiden Autobahnen nur für Lastwagen und Busse freizugeben – und die andere für den Personenverkehr. Davon wollen die Autobahnbahnbetreiber nichts wissen.
Geplant ist, dass die neue Strecke im September oder Oktober eröffnet wird. Ministerpräsident Renzi wird es sich nicht nehmen lassen, dieses Prunkstück italienischer Ingenieur- und Baukunst feierlich zu eröffnen – vorausgesetzt, er ist dann noch Ministerpräsident.
Da man Renzi alles zutraut, munkelt man auf den Baustellen, dass er im Fiat Cinquecento zur Eröffnung erscheinen wird. Mit luftgekühltem Heckmotor.