Nato-Vertreter in Kabul bestätigen, dass sich kleine Gruppen von Aufständischen bei lokalen Regierungsvertretern erkundigt hätten, ob und wie allenfalls eine Annäherung möglich sei. Spezialisten in Aufstandsbekämpfung nennen diese Entwicklung „Reintegration“.
Erste Berichte über Kontakte zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban hatten bereits vergangene Woche die Runde gemacht. „Die „Washington Post“ meldete unter Berufung auf afghanische und arabische Quellen, Vertreter Hamid Karzais und der Taliban hätten wahrscheinlich in Dubai Geheimgespräche auf hochrangiger Ebene begonnen mit dem Ziel, den Krieg am Hindukusch einvernehmlich zu beenden. Ähnliche Treffen hatten vor über einem Jahr in Saudi-Arabien ohne Ergebnis geendet. Die fraglichen Taliban, so die „Post“, seien Vertreter der Quetta-Shura, jener Aufständischenorganisation unter der Führung von Mullah Mohammed Omar, die von der südwestpakistanischen Provinz Balutschistan aus operiert.
Das Weisse Haus unter Druck
Derweil berichtete der britische „Guardian“, die afghanische und die amerikanische Regierung hätten unlängst auch indirekte Kontakte zum Netzwerk von Sirajuddin Haqqani aufgenommen, dessen Hauptquartier in Nordwaziristan liegt und das heute einzelnen Experten zufolge gefährlicher und mächtiger ist als die Quetta-Shura von Mullah Omar. Haqqani werden gute Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (ISI) nachgesagt. Auch soll sein Netzwerk, das als äusserst skrupellos und gewaltbereit gilt, unter allen Aufständischen die engsten Kontakte zu Osama bin Ladens al-Qaida pflegen. Diplomaten zufolge könnten sich die Gespräche mit den Taliban im Dezember intensivieren, wenn die Gebirgspässe zwischen Pakistan und Afghanistan zugeschneit sind und die Zeit der Kämpfe zu Ende geht.
Woher rührt, falls bestätigt, die Bereitschaft der Taliban zu Verhandlungen mit der Regierung in Kabul? Früher zumindest hatten die Aufständischen jeweils wissen lassen, vor einem vollständigen Abzug der westlichen Truppen auf Afghanistan könne es keine Friedensgespräche geben. Inzwischen hat US-Präsident Barack Obama den Juli 2011 als Zeitpunkt für den Beginn des amerikanischen Truppenabzugs festgelegt, ein Termin, den das Pentagon und der zuständige Kommandant, General David Petraeus, für verfrüht halten. Entsprechend unter Druck ist das Weisse Haus, vor dem geplanten Abzugsdatum Fortschritte in Afghanistan vorweisen zu können.
Intensivierung des Kampfes
Laut einem Nato-Vertreter, den Michael Gerson in der „Washington Post“ zitiert, gibt es drei Gründe, weshalb die Taliban neuerdings gesprächsbereit sind: „Erstens wollen sie von der Liste möglicher Angriffsziele gestrichen werden und keine Zielscheiben mehr abgeben.“ Noch vor 18 Monaten hatten die Aufständischen in Afghanistan im Kampf gegen die ausländischen Truppen Rückenwind verspürt. Inzwischen aber haben die Sonderkräfte der Nation, allen voran die Special Forces der US-Armee, ihren Kampf gegen die Taliban intensiviert und führen derzeit jede Nacht acht bis zehn gezielte Operationen durch, die in den meisten Fällen tödlich enden. Was die einheimischen Kämpfer zunehmend zu demoralisieren scheint: „Einige Kämpfer haben keinen ruhigen Moment mehr. Sie können nicht schlafen. Sie sind ständig unterwegs. Sie können keine Angriffe mehr planen, weil sie überlegen müssen, wie sie überleben können.“ Das werfe einen Graben auf zwischen den Kriegern im Felde und den Kommandanten, die in relativer Sicherheit von Pakistan aus ihre Befehlte erteilten.
Zweitens, so der Nato-Vertreter, wollten die gesprächsbereiten Taliban Schutz vor unverbesserlichen Aufständischen und drittens Aussichten auf eine lebenswerte Zukunft. Zwar finde diese „Reintegration“ in Afghanistan erst „tröpfchenweise“ statt, weite sich aber allmählich auf sämtliche Regionen des Landes aus. Noch sei sie aber zu schwach, um auf dem Schlachtfeld spürbar zu werden.
Hohe Verluste
US-General David Petraeus, der im Dezember dem Weissen Haus über die Lage in Afghanistan berichten und bei dieser Gelegenheit einen Zeitplan für den Abzug der US-Truppen vorlegen soll, stimmt der Einschätzung des Nato-Vertreters zu: „So werden Aufstände dieser Art normalerweise beendet.“ Beide Seiten, Nato wie Taliban, sind sich inzwischen wohl einig, dass es in Afghanistan keine militärische Lösung geben kann, sondern lediglich den Weg des Dialogs, der Annäherung und am Ende der Einigung.
Indes sind dieses Jahr in Afghanistan mehr Nato-Soldaten gestorben als je zuvor während des neunjährigen Krieges am Hindukusch. Waren im vergangenen Jahr insgesamt 521 Kämpfer gefallen, so sind 2010 (bis zur letzten Septemberwoche) bereits 529 Soldaten gestorben, unter ihnen allein neun jüngst bei einem noch ungeklärten Helikopterabsturz im Süden des Landes.
Der Londoner „Independent“ hat unlängst spekuliert, wie eine Einigung zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban aussehen könnte:
Die Truppen der Nato verpflichten sich, Afghanistan gemäss einem fixen Zeitplan zu verlassen. Dafür rufen die Taliban vor Beginn des Abzugs einen Waffenstillstand aus.
Vertreter der Taliban übernehmen als Teil des Versöhnungsprozesses einzelne Regierungsposten auf lokaler Ebene. Bis zu einem gewissen Grad ist das bereits heute der Fall, denn einzelne afghanische Volksvertreter sympathisieren mit den Aufständischen oder unterstützen sie sogar.
Mullah Mohammad Omar und seine Untergebenen in der Quetta-Shura erhalten Immunität vor Strafverfolgung und gehen ins Exil, am ehesten nach Saudi-Arabien. Die Saudis stimmen einem solchen Schritt aber nur unter der Bedingung zu, dass die Taliban sämtliche Kontakte zu Osama bin Laden und dessen Netzwerk abbrechen, eine Forderung, die auch die USA erheben.
Heimat aller Afghanen
Trotzdem dürften einer Aussöhnung in Afghanistan noch etliche Hindernisse im Wege stehen. Dem „Independent“ zufolge operieren die Aufständischen extrem dezentralisiert, ein Umstand, den die Angriffe der Nato-Sonderkräfte verstärken, wenn erfahrene Anführer der Taliban töten und jüngere, unter Umständen radikalere Kräfte nachrücken: „Was eine Gruppe von Aufständischen akzeptiert, ist für eine andere unter Umständen völlig inakzeptabel.“ Ausserdem gibt es in Afghanistan grössere Bevölkerungskreise, die als Nicht-Paschtunen die Regierung in Kabul zwar unterstützen, eine Einigung mit den Taliban aber sabotieren könnten, weil eine solche für sie einem Verrat gleichkäme. Das gilt mit Sicherheit für die tadschikische Nordallianz, die 201l zusammen mit den USA die Taliban von der Macht vertrieben hat.
„Afghanistan ist erneut die Heimat aller Afghanen“, sagte Hamid Karzai am Monatag im Gespräch mit CNN: „Und die Taliban sind als Afghanen willkommen.“ Die Aufständischen, so der Präsident, seien wie Kinder, die vor ihren Eltern davongerannt seien: „Die Familie sollte sie zurückbringen, sie bessere Disziplin lehren und sie wieder in den Familienkreis und in die Gesellschaft eingliedern.“
Zu diesem Zweck hat Karzai einen „Hohen Friedensrat“ ins Leben gerufen, der künftig für Kontakte zu den Taliban zuständig ist. Noch allerdings, meint Thomas Ruttig, Co-Direktor einer Afghanistan-Denkfabrik, seien diese Kontakte sehr lose: „Es sind eigentlich mehr Gespräche über Gespräche und das Ganze soll den Eindruck vermitteln, dass es, zwar ohne breite Basis, Grund zu Optimismus gibt… vor allem in jenen Ländern, die Truppen in Afghanistan stationiert haben.
Wenn der Zug abfährt
„Der afghanische Friedenszug steht auf dem Bahnsteig bereit, und alle wichtigen Treiber des Krieges rangeln um Sitze für den Fall, dass der Zug abfährt“, schreibt Julian Borger in seinem Blog im „Guardian“: „Einige versuchen, Plätze zu reservieren, damit andere nicht einsteigen können. Andere versuchen mit aller Macht, den Zug nicht abfahren zu lassen.“ Etliche Bahnpassagiere, zumindest die Ausländer unter ihnen, dürften Borger zufolge dasselbe Buch auf die Reise mitnehmen: Abdul Salam Zaeefs „Mein Leben mit den Taliban“.
Zaeef, der frühere Botschafter der Aufständischen in Pakistan, ist heute nach vier Jahren Haft in Guantanamo zurück in Afghanistan. Dem Mitbegründer der Taliban zufolge dreht sich der Krieg in seiner Heimat weniger um Religion und Ideologie denn um Land und Zugehörigkeit: „Als Afghane bist du immer mehr als nur ein Ding: Deine Familie, dein Stamm, dein Volk und dein Herkunftsort sind alle Teil von dir.“