Als seinerzeit grosse Illustrierte wie Life oder Look angesichts des Aufkommens bewegter Fernsehbilder vom Markt verschwanden, war plötzlich die bange Frage zu hören, was Fotografen in einer Welt, die ausfotografiert sei, noch bleibe. Mit einem Mal waren am Bildschirm Aufnahmen zu sehen, bevor die Fotoreporter, zurück im Hotelzimmer, ihre Filme desselben Geschehens auch nur entwickelt hatten.
Der Wettbewerb World Press Photo, an dem dieses Jahr 5666 Fotografen aus 124 Ländern teilgenommen haben, gibt seit 1955 Antwort: Allen Unkenrufen zum Trotz ist einiges geblieben, Jahr für Jahr, weil Fotografen gelernt haben, sich auf die Stärken ihres Mediums zu besinnen sowie mit Geduld und Empathie Nischen zu besetzen, die das Fernsehen übersieht oder vernachlässigt.
Trauerzug durch die Gassen von Gaza-City
Trotzdem rücken klassische Themen der Reportage - Kriege, Katastrophen, Exotika – nach wie vor in den Sucher zeitgenössischer Fotografen. Doch statt jener Welt, die ausfotografiert ist, tun sich heute neue Bilderwelten auf – vom Zugang und vom Formalen her. Was Mark Twain von sich sagte, nachdem er im New York Journal einen Nachruf auf sich gelesen hatte, gilt auch für die Pressefotografie: „Die Berichte über meinen Tod sind masslos übertrieben.“
Dieses Jahr sind in neun Kategorien 103‘000 Aufnahmen zur Beurteilung durch die 21-köpfige Jury von World Press Photo 13 eingereicht worden. Gewonnen hat der Schwede Paul Hansen, seit 2000 Mitarbeiter der Stockholmer Tageszeitung Dagens Nyheter, mit dem Bild eines Trauerzuges durch die Gassen von Gaza-City. Männer tragen die Leichen zweier in weisse Laken gehüllter Kinder vor sich her, die am 20. November 2012 bei einem Luftangriff der Israelis getötet worden sind.
"Unanständig nachbearbeitet"?
Anlässlich der Vernissage in Zürich erzählte Hansen, wie das Siegerfoto entstanden ist – unter Umständen, die chaotisch waren, „sowohl innerlich wie äusserlich“. In einem Interview mit „persoenlich.ch“ - neben der Dutch Postcode Lottery, Canon, der Privatbank Baumann & Cie sowie der NZZ am Sonntag Sponsor des Anlasses - hatte der Schwede zuvor auf die Frage nach der Botschaft seines Bildes geantwortet: „Dass das Töten von unschuldigen Menschen ein beschämendes Beispiel von politischer Unfähigkeit darstellt.“
Die Aufnahme aus Gaza, räumte Paul Hansen im Interview ein, sei allerdings nicht die beste, die er je geschossen habe. Sein bestes Foto sei “jenes meiner Tochter nach der Geburt“.
Von politischer Kontroverse verschont geblieben
Anders als ein vergleichbares Bild der Agentur AP aus dem Gaza-Streifen ist das World Press-Siegerfoto von politischer Kontroverse verschont geblieben. Indes rügte Reto Camenisch, Leiter des Studiengangs „Redaktionelle Fotografie“ der Schweizer Journalistenschule, in einem Beitrag der SRR-„Tagesschau“, Hansens Bild sei für seinen Geschmack zu stark („unanständig und unangebracht“) am Computer nachbearbeitet worden.
Das AP-Bild eines trauernden Palästinensers, der den Leichnam seines 11-monatigen Sohnes vor sich her trägt, den eine Rakete in Gaza tötete, ist als anti-israelische Propaganda kritisiert worden, weil ein Uno-Gremium vier Wochen nach dem Tod des Kindes und ohne forensische Untersuchung zum Schluss kam, der Knabe sei mutmasslich von einer fehlgeleiteten Rakete der Hamas getroffen worden. Die Aufregung in den Medien war gross, als sei angesichts eines Konflikts, der im letzten November 174 Palästinenser und sechs Israelis das Leben kostete, eine unter Umständen falsche Bildlegende die wahre Tragödie und nicht der Tod eines Kindes.
Aus Prinzip keine Fotos publiziert
Die Bilder weiterer Gewinner von World Press Photo 13 ausser Paul Hansen widerspiegeln eine Welt, die auch 2012 stark von Krieg und Gewalt geprägt war: in Afghanistan, in Syrien, im Südsudan. Und sie dokumentieren eine „condition humaine“, die häufig weit davon entfernt ist, human zu sein: die Pflege eines an Alzheimer erkrankten Ehegatten in Italien, das Los gleichgeschlechtlicher Paare in Vietnam, den Alltag der Oglala Lakota auf der Pine Ridge Reservation in South Dakota, die entstellten Patienten eines Spitalschiffs in Conakry (Guinea), das Schicksal einer 39-jährigen Mutter und ihrer dreijährigen Tochter im südiranischen Bam, denen der eifersüchtige Mann und Vater Säure ins Gesicht geschüttet hat. Eher Abwechslung und visuelle Erholung bieten dagegen die Siegerbilder in den Kategorien Natur und Sport.
Als Gastreferent bei der Eröffnung der Ausstellung in Zürich war Journal21-Autor Arnold Hottinger geladen. Doch der langjährige Nahost-Korrespondent der NZZ und heutige Journal21-Autor äusserte sich zur Überraschung etlicher Anwesender nicht über das aktuelle Geschehen in der Region, sondern seine Einschätzung von Pressebildern. Als er 1958 als Volontär bei der Zeitung zu schreiben begann, habe diese unter Chefredaktor Willy Bretscher noch keine Fotografien publiziert – aus Prinzip.
Sein Vorbehalt gegenüber Bildern als Informationsträger, so Hottinger, rühre daher, dass sie in einem Augenblick „geschossen“ würden, ohne Vorher oder Nachher, und keine Zusammenhänge aufzeigen könnten. Ein Pressefoto sei wie eine Begegnung, etwas, was auf einen zukomme und worauf einer instinktiv, ohne grosses Nachdenken, reagiere.
Ein gutes Bild müsse deshalb Fragen stellen und Erklärungen provozieren, nicht einfach Schnappschuss, sondern nachhaltiges Dokument sein. Wie Paul Hansens Siegerbild, das die Frage aufwirft, warum Kinder in Konflikten wie jenem in Gaza sterben müssen und was solche Konflikte auslöst.
Paul Hansen - nach Gaza zurückgekehrt
Auch ihn habe seit der Zeit seines Korrespondentenlebens das Schicksal der Menschen im Nahen Osten bewegt, antwortete Arnold Hottinger auf die Frage nach seinen Motiven. Sie lebten in einer Region, die nach Kolonisation und Verwestlichung zunehmend unter Identitätsverlust leide. Dagegen stemme sich die „Arabellion“, eine Entwicklung, die zwar Anlass zu Hoffnung gebe, deren Gelingen aber alles andere als garantiert sei.
Und was macht Paul Hansen, der unlängst nach Gaza zurückgekehrt ist, um die Mutter der beiden toten Kinder, des zweijährigen Suhaib Hijazi und des fast vierjährigen Muhammad, zu treffen? Die Palästinenserin war beim israelischen Luftangriff selbst schwer verletzt worden und hatte ausser ihren beiden Söhnen auch ihren Mann Fouad verloren. Der Schwede fotografiert in einem Spital krebskranke Frauen, denen Freiwillige bei der Bewältigung ihres Alltags helfen. Es ist eine kleinere Bühne als Gaza, aber deswegen nicht minder gewinnend.
Ausstellung im Folium – Alte Sihlpapierfabrik, Sihlcity Zürich; 3. – 26. Mai 2013; Mo-So 11-19 Uhr, Fr 11-21 Uhr (Auffahrt und Pfingsten geöffnet).; öffentliche Führungen sonntags, 5./12./19./26.Mai, 13:00 Uhr; Katalog CHF 39.-