Mursis Schlag gegen die Richter hat ganz Ägypten in Aufruhr versetzt. Die Richter sind für viele Ägypter von grosser Autorität. In der Erfahrung der meisten Ägypter stellen sie die einzige staatliche Gewalt dar, die nicht völlig willkürlich gegen sie vorgeht, sondern versucht, Regeln anzuwenden.
Die Richter werden daher als Schutzmacht wahrgenommen, vergleichbar nur mit den religiösen Autoritäten, den Gottesgelehrten, die in der Geschichte der islamischen Länder auch richterliche Funktionen ausgeübt haben, und damit die Bevölkerung gegen die schrankenlosen und gänzlich unvorhersehbaren Eingriffe der Machthaber einigermassen beschützten.
Für oder gegen den "islamischen Staat"
Doch die Richter sind keineswegs die einzige Gruppe, die protestiert. All jene, die nicht in einem "islamischen Staat" leben möchten, wie immer sie sich diesen vorstellen, stimmen in den Protest der Richter ein. Ebenso alle die Kräfte und Politiker, die ihren Anteil an der Staatsmacht anstreben und die fürchten, Mursi könnte sich nun zum absoluten Machthaber entwickeln, der ihnen, wie sie das in den letzten Jahrzehnten so oft erfuhren, alles Mitspracherecht entzieht.
Diese politischen Kräfte finden ein unpolitisches Echo bei der immensen Masse von einfachen Ägyptern, die vom bisherigen Verlauf der "Revolution" enttäuscht sind, weil sie ihnen bisher nur noch schwierigere Lebensumstände, Wirrnisse aller Art, Unsicherheit und wenig Aussicht auf bessere Zeiten gebracht hat. Ein weiterer Resonanzkörper für die Proteste ist durch die Revolutionsgruppen gegeben, deren Aktivisten der Ansicht sind, "ihre" Revolution müsse weitergeführt, ja "gerettet" werden.
Prekäre Ordnung
Mursi kann jedoch auf die disziplinierten Heere von Anhängern der Bruderschaft zählen. Hinter ihren Reihen greifen auch die wenig organisierten, aber umso emotionaleren Scharen der Salafisten in die Konfrontation ein. Sie kämpfen für einen "islamischen Staat", dessen genaue Umrisse sie allerdings auch nicht zu zeichnen vermögen. Sie begnügen sich mit der Vorstellung eines idealen Staats der Gerechtigkeit, so wie er zu Zeiten des Propheten bestanden habe, und sie verbinden diese Utopie mit dem Begriff der Scharia.
Die Polizei versucht bei alledem, eine Art von Ordnung aufrecht zu erhalten. Doch welche Ordnung soll es sein? Die der Richter oder jene der Präsidentschaft? Wenn die Konfrontation andauert, wird wohl auch der Augenblick kommen, in dem die Militärs sich fragen, ob sie nicht als Ordnungskraft letzter Instanz eingreifen müssten oder möchten.
Streik der Richter, Aufruhr unter den Politikern
Die Richter haben zu einem Streik aller Richter Ägyptens aufgerufen, und dieser wird bereits teilweise befolgt. Drei führende Politiker der säkularen Opposition haben sich zusammengeschlossen und gemeinsam protestiert: Amr Moussa, Hamdan Sabahi und Mohammed Baradei.
Amr Mousa, der ehemalige Außenminister und Generalsekretär der Arabischen Liga, besitzt viele Bewunderer und Parteigänger unter den gebildeten Ägyptern; Hamdan Sabahi versucht, das Prestige Abdel Nassers für seinen nasseristischen Sozialismus zu mobilisieren und hatte damit in den Präsidentenwahlen einen grossen Prestigeerfolg; Mohammed Baradei ist Nobelpreisträger, verfügt aber nur über eine relativ kleine Gefolgschaft im Nilland.
Die drei zusammen treten als die schärfsten Kritiker Mursis auf, wenn man von den erbitterten Richtern absieht. Sie haben erklärt, sie seien nicht bereit, mit Mursi zu verhandeln, bevor er nicht sein "pharaonisches" Dekret zurücknimmt. Andere Oppositionskreise, darunter die historische Wafd Partei, prostestieren ebenfalls, haben aber sofortige Gespräche über Mursis Vollmachtsdekret nicht ausgeschlossen.
Kraftprobe am Dienstag?
Auf Dienstag haben alle politischen Kräfte der Opposition, einschliesslich der Revolutionsgruppen, zu Grossdemonstrationen aufgerufen, die ein neuer Millionenmarsch werden sollen. Da es auch Gegendemonstranten aus den Kreisen der Brüder und der Salafisten geben wird und weil schon die erste Protestwelle von vergangenen Freitag und Samstag zu gewalttätigen Ausschreitungen führte, in erster Linie gegen die Lokale der Muslimbrüder in vielen ägyptischen Provinzhauptstädten, ist eine weitere Steigerung der Unruhen zu befürchten, falls es nicht vorher noch gelingen sollte, einen Kompromiss in die Wege zu leiten.
Der Absturz der Börsen um 9 Prozent, den die politischen Wirren auslösten, ist eine Warnung, die deutlich macht, das die schon gegenwärtig angeschlagene Wirtschaft Ägyptens unter weiteren Wirren schwer leiden wird. Die Spannungen über das islamische Thema drohen zu einer Teilung des Landes in zwei gleiche Hälften zu führen, und wenn sie uneingeschränkt und immer gewalttätiger fortwirkten, wären sie das Rezept für einen Bürgerkrieg.
Kann das Dekret eingeschränkt werden?
Es gibt Möglichkeiten für einen Kompromiss. Die Oberste Aufsichtsbehörde des gesamten Rechtswesens, der Oberste Gerichtsrat (Supreme Judicial Council), hat angedeutet, wo er zu finden wäre. Die hohen Richter dieses Rates haben erklärt, das Dekret Mursi sollte sich auf "Souveräne Belange" (souverain matter) beschränken. Dies scheint anzudeuten, dass es eine Möglichkeit geben könnte, das Dekret auf Angelegenheiten anzuwenden, welche die "politische Souveränität" betreffen, aber nicht die normale "juristische Ordnung".
Wahrscheinlich verhandeln zur Zeit die Rechtsfachleute Mursis und jene der juristischen Behörden fieberhaft darüber, wie ein derartiger Kompromiss aussehen könnte. Mursi selbst hat Erklärungen abgeben, die deutlich machen, dass er einen Kompromiss sucht. Seine Machtfülle, so wiederholte er mehrfach, sei ja nur kurzfristig gemeint, nämlich nur bis zu den nächsten Wahlen. Doch die Opposition befürchtet natürlich, dass er diese Machtfülle anwenden könnte, um eine Verfassung festschreiben zu lassen, die ihm ein dauerhaftes Machtmonopol verschafft.
Der Oberste Gerichtsrat hat die Richter aufgerufen, zur Arbeit zurückzukehren und damit den Streik abgelehnt, der vom "Klub der Richter", einer Berufsassoziation der Richter, ausgerufen worden war. Der von Mursi abgesetzte Oberste Staatsanwalt, Mahmoud, hat seinerseits eine rechtliche Klage gegen seine Absetzung eingereicht. Wenn die Richter streiken, kann sie nicht behandelt werden. Zur Frage, was die "Doktrin der Souveränitätsfragen" in der ägyptischen Rechtstradition sei, gibt es bereits eine brillante Analyse des Fachmanns Nathan Brown im Internet. Er hat in den letzten Monaten viel Klärendes über die ägyptischen Rechts- und Verfassungsfragen veröffentlicht.