Am Montag, den 23. August 1976, tritt bei den Musikfestwochen Luzern ein 13-jähriges Mädchen in der Reihe «Junge Talente» auf. Das Konzert findet in der prächtigen St. Charles Hall in Meggen statt, direkt am Vierwaldstättersee. Das Mädchen heisst Anne-Sophie Mutter, die Umgebung interessiert sie kaum, denn es ist ihr erstes Konzert vor internationalem Publikum. Vierzig Jahre ist das her und Anne-Sophie Mutter hat in dieser Zeit eine beispiellose Karriere gemacht. Heute ist sie der Star unter den Geigenstars, Vorbild und Massstab für jüngere Musiker.
Rückblick in Dankbarkeit
Hat sie überhaupt noch Erinnerungen an damals? «Oh ja, sehr lebhafte sogar», sagt sie heute. «Durch seine Einmaligkeit hat sich das Konzert bei mir tief eingeprägt. In der Retrospektive umso mehr, als sich daraus die Zusammenarbeit mit Herbert von Karajan ergeben hat. Aber davon abgesehen war mir im Alter von 13 Jahren die Bedeutung des Musikfestivals Luzern durchaus schon bewusst und mit der Vielfältigkeit des Programms von Bach über Paganini bis hin zum Teufelstriller von Tartini war das Rezital auch eine grosse Herausforderung für mich.» Knapp ein Jahr später trat sie unter der Leitung von Herbert von Karajan bereits an den Salzburger Festspielen auf.
Zum «Dienst-Jubiläum» am Lucerne Festival gibt es keine Wiederholung des ersten Programms vor vierzig Jahren. «Nein, das fände ich jetzt nicht so wahnsinnig spannend ... Teile jenes Programmes von damals habe ich ja immer mal wieder aufgeführt. Aber mein Repertoire hat sich weiterentwickelt, sodass mir Alban Berg und ein mir gewidmetes Werk des Schweizer Komponisten Norbert Moret, das ich seit der Uraufführung relativ selten gespielt habe, für dieses Jubiläumskonzert mehr am Herzen liegen.» Dankbar auf vierzig Jahre zurückschauen, kurz feiern und dann «wild entschlossen in die Zukunft blicken», so sieht Anne-Sophie Mutter den Jahrestag, der auf sie zukommt.
Wunderbarer Konzertsaal
Nostalgie mag sie gar nicht erst aufkommen lassen. «Ich neige weniger zu solchen Gefühlen», winkt sie ab. Luzern liebt sie aber dennoch. «Die Schweiz ist ja meine zweite Heimat. Einerseits durch meine langen Studienjahre in Winterthur bei Aida Stucki, meiner wunderbaren Geigenlehrerin, und andererseits, weil ich ja auch Schwyzerdütsch rede, da ich im Badischen an der Schweizer Grenze aufgewachsen bin.» Und wenn sie ihre diesbezüglichen Sprachkenntnisse demonstriert, klingt es total heimelig. «Dann natürlich die schöne Landschaft, die Berge, der Vierwaldstättersee, Sprünglis Truffes du Jour und vor allem Roger Federer … den hätte ich eigentlich zuerst erwähnen müssen …» Anne-Sophie Mutter gibt sich als absoluter Federer-Fan zu erkennen und besucht auch seine Matches, wenn immer es geht. Nicht zuletzt schwärmt sie auch vom Konzertsaal des KKL.
«Das ist ein Wurf par excellence … Er ist auch ein grosses Vorbild für den neuen Konzertsaal, zu dem man sich jetzt in München endlich doch entschlossen hat.» Und schliesslich unterstreicht sie ihre Beziehung zum Lucerne Festival, das sie ganz besonders mag: «Dieses Festival hat immer auch das Innovative in der Musik gepflegt. Ausserdem stellt es einen hohen Anspruch an sein Publikum, indem es neben dem Gewohnten immer auch Neues präsentiert und zwar in der für die Schweiz so typischen Unaufgeregtheit, die es dem Publikum leicht macht, sich ganz natürlich in neue Musik hineinzufinden.»
Spürt sie eigentlich, ob das Publikum bei der Sache ist, beziehungsweise: Kann sie das von der Bühne aus beeinflussen? «Das hoffe ich schon, dass die Kraft der Musik, wie vielleicht auch der Interpretation, das Publikum in Bann ziehen kann …! Ich denke, dass ein Künstler da schon seine Möglichkeiten hat, wenn er auf ein Publikum trifft, das noch im Alltag feststeckt, das noch nicht ‘angekommen’ ist. Wir sind sozusagen die ‘Sender’, die auf Musik eingestimmt sind, aber ohne Empfänger kommt die Musik nicht an. Man hat hoffentlich alles gut geprobt, man fühlt sich im Repertoire wohl und will alles geben, aber beide Seiten müssen sich aufeinander einschwingen. Das ist ein ganz natürlicher Prozess und kann ein paar Minuten dauern. Dann gibt es aber auch diese wunderbare gespannte Stille, in der alles entstehen kann, in der Magie entsteht.»
Eine Galaxie mehr
Und dass in diesem Publikum neben Älteren durchaus auch Jüngere sitzen können, hat sie insbesondere im Fernen Osten erlebt. «Ich spiele sehr gern in Taiwan, da trifft man auf ein ganz junges Publikum, das klassischer Musik unvoreingenommen und mit grossem Enthusiasmus begegnet. Überhaupt: ein junges Publikum, das Musik in dieser Form zum ersten Mal erlebt, hat für mich immer etwas sehr Berührendes. Deshalb begeistert mich auch dieses ‘Yellow Lounge’-Projekt, bei dem wir zuletzt in Berlin in einem Club vor jungen Leuten spielten. Es geht mir gar nicht darum, sie in den Konzertsaal zu locken, es geht darum, ihnen die Möglichkeit zu geben, in einem lockeren Rahmen Musik kennenzulernen, die ihnen noch fremd ist und die dann doch ihre ganze Wucht entfaltet.»
Anne-Sophie Mutter am Lucerne Festival
25. August 2016:
Jubiläumskonzert
Currier, Mozart, Respighi, Saint-Saens: Rezital mit Lambert Orkis
4. September 2016:
Alban Berg, Norbert Moret
Seit fast dreissig von den bisher vierzig Jahren ihrer Karriere tritt Anne-Sophie Mutter regelmässig mit dem amerikanischen Pianisten Lambert Orkis auf. Für sie ein wahrer Glücksfall. «In einer musikalischen Partnerschaft ist es grossartig über Jahre und Jahrzehnte zusammenzuarbeiten. Alles Neue ist aufregend und schön, aber dieses Neue dann zu vertiefen, führt zu noch grösserer Freiheit in der Musik. Wir beide proben mit grosser Leidenschaft und es ist ein bisschen wie bei Star Treck: es gibt immer noch eine Galaxie mehr, die man zusammen entdecken will und das ist besonders aufregend, wenn man auf gegenseitigem Vertrauen aufbauen kann. Vielleicht wird man auch von besonderer Neugier angetrieben, weil man sich nicht um den anderen sorgen muss, sondern weil man weiss, dass man einen Partner hat, der musikalisch immer bei der Sache ist.»
«Prima Donna» lautet das Motto des Lucerne Festival dieses Jahr. Zum ersten Mal ist eine grössere Anzahl Dirigentinnen mit dabei. Auch Anne-Sophie Mutter leitet seit längerem immer wieder Konzerte als Geigerin. Die Frage drängt sich auf, ob sie vielleicht irgendwann die Geige zur Seite legt und den Schritt zur reinen Dirigentin machen möchte. «Das wäre natürlich verlockend», gibt sie zu, «und ich bedaure, dass ich kein abgeschlossenes Dirigentenstudium habe. Aber andererseits hat das Geigenrepertoire noch so viele interessante Facetten und ich bin längst noch nicht da, wo meine Phantasie als Geiger bereits hingewandert ist. Also muss ich rastlos weitersuchen, um das zum Klingen zu bringen, das in meinen inneren Ohren lebt.»