Die Wahl selbst wird allerdings diese Frage noch nicht entscheiden. Sie bildet nur eine Vorstufe und die Grundlage, auf der die Entscheidung dann gefasst wird. Den Wahlen werden Verhandlungen darüber folgen, wer die parlamentarische Mehrheit erhält. Diese wählt dann zunächst den irakischen Präsidenten. Dann wird eine Regierung gebildet.
Viele der Parteiallianzen, die gesondert in den jetzigen Wahlkampf gezogen sind, müssen sich in der Verhandlungsphase nach den Wahlen entscheiden, mit wem sie kollaborieren wollen und können. Erst wenn dies entschieden ist – die Verhandlungen könnten sich lange Zeit hinziehen – wird deutlicher, welche der rivalisierenden Mächte im Irak die Überhand gewinnen wird.
Favorit al-Abadi
In den Wahlen gibt es einen Favoriten: den bisherigen Regierungschef Haidar al-Abadi und seine „Siegesallianz“. Der Name verweist auf den Sieg, den die irakische Armee und die irakischen Milizen unter der Führung al-Abadis über den IS errungen haben. Der Ministerpräsident sucht auf diesem Sieg seine politische Zukunft zu gründen. Er hat – was im Irak bisher noch nie vorgekommen war – eine regelrechte Wahlkampagne in allen Teilen des Landes geführt.
Persönlich hat er sich in die politisch heiklen Regionen begeben: nach Kurdistan einerseits und andrerseits in die sunnitischen Bevölkerungszentren. Diese liegen zu einem grossen Teil in Ruinen. Zuerst hatten sie unter den Kämpfen des Widerstands gegen die Amerikaner zu leiden. Dann durch die Kämpfe gegen den IS, der vorwiegend von schiitischen irakischen Milizen geführt und von amerikanischen Kampfflugzeugen unterstützt wurde.
Nicht nur Schiiten auf den Wahllisten
Al-Abadi hat sowohl die sunnitische Ruinenstadt Mosul als auch das weitgehend zerstörte Falludscha persönlich besucht. Zudem war er in Erbil, der Hauptstadt der irakischen Kurden.
Auf den Wahllisten der „Siegerallianz“ befinden sich nicht nur Schiiten, sondern Angehörige aller irakischen Glaubens- und Volksgruppen. Al-Abadi selbst gehört zur Schiitenpartei „Da’wa“ (Ruf, Mission). Das ist die gleiche Vereinigung, der auch sein Hauptkonkurrent und Vorgänger, der frühere Ministerpräsident al-Maleki, angehört. Doch die beiden führen verschiedene Gruppen innerhalb von „Da’wa“ an.
Genug der inneren Kämpfe?
Wahlbeobachter stellten fest, dass mindestens in Bagdad viele Wähler des Streits zwischen Sunniten und Schiiten müde sind. Diese Auseinandersetzungen toben seit der amerikanischen Besetzung im Jahr 2006. Al-Abadis Wahlergebnis wird Aufschluss darüber geben, wie weit man auch in der Provinz des sunnitisch-schiitischen Streits überdrüssig geworden ist.
Al-Abadis wichtigste Gegner ziehen in diesen Wahlen, im Gegensatz zu früher, nicht gemeinsam als „Schiiten“, „Sunniten“ oder „Kurden“ in die Wahlen, sondern gespalten in unterschiedliche Parteien und Allianzen, die die gleiche religiöse oder ethnische Identität aufweisen. Dies gilt besonders für die schiitische Mehrheit der Iraker. Sie tritt in diesen Wahlen mit mindestens zwei unterschiedlichen Allianzen auf, die sich ganz auf die Seite Irans stellen. Andere Gruppierungen, die ebenfalls nur Schiiten ansprechen, berufen sich auf den irakischen Schiismus, wie ihn am prominentesten Ayatullah Sistani vertritt. Noch andere folgen fanatisch dem Gottesgelehrten Muqtada Sadr, der seinerseits für die gegenwärtigen Wahlen eine Verbindung mit der Kommunistischen Partei des Iraks eingegangen ist. Beide Alliierten zusammen wollen die Korruption bekämpfen, die im Schatten des bisherigen Politsystems besonders stark aufblühen konnte.
Geschwächte Sunniten und Kurden
Auch die Sunniten und die Kurden führen ihre Eigenformationen in die Wahlen, auch sie wiederum aufgeteilt in solche unterschiedlicher Tendenzen und mit rivalisierenden Anführern. Doch die beiden Gruppen, die sich in einer schweren Krise befinden, sind weniger in der Lage, sich klar zu artikulieren, als es jene der schiitischen Mehrheit sind. Die arabischen Sunniten leiden darunter, dass viele von ihnen flüchten mussten und in Lagern leben, von denen sie noch immer nicht in ihre Heimatorte zurückkehren konnten.
Die Kurden ihrerseits leiden unter Geldmangel, politischen Wirrnissen und den Folgen der unbedachten Volksabstimmung vom vergangenen September, die ihnen zahlreiche Gebietsverluste, vor allem Kirkuk, gebracht hatte.
Kann das Konfessionensystem überwunden werden?
Bei früheren Wahlen stand immer die religiöse oder ethnische Verwurzelung der Kandidaten im Vordergrund. Die jetzigen Wahlen sollten in erster Linie Klarheit darüber schaffen, ob ein grosser Teil der heterogenen Bevölkerung nun gewillt ist, Fachleute und Führungspersonen zu wählen, die das Land voranbringen und ihm als Ganzes nützen wollen.
Nach den Wahlen werden dann Mehrheiten gesucht und Allianzen gebildet. Dann wird sich entscheiden, welchen Weg der Irak einschlägt: einen pro-iranischen oder pro-westlichen. Für die Wahl eines Präsidenten braucht es eine Dreifünftel-Mehrheit. Die Regierung muss, wie in allen parlamentarischen Demokratien, eine absolute Mehrheit für sich gewinnen, wenn sie Bestand haben soll.