Wie zu erwarten war, erweisen sich beide ehemaligen Freunde und jetzigen Gegenspieler, die Präsidenten Putin und Erdogan, als scharfzüngige Kämpfer. Beide dürften dabei nicht nur die internationale Öffentlichkeit als Zielpublikum anvisieren, sondern auch gleichzeitig und möglicherweise in erster Linie ihre heimische Zuhörerschaft. Vor dieser müssen beide die Nachteile und Gefahren rechtfertigen, die ihre kriegerischen Aktionen mit sich bringen.
Sie suchen die negativen Aspekte ihrer Aussenpolitik dadurch zu überspielen, dass sie den Chauvinismus – ein veralteter Ausdruck für eine eigentlich veraltete Haltung – ihrer Völker schüren. Was ihnen durchaus zu gelingen scheint.
Erdogan lenkt ein bisschen ein
Erdogan hatte vor dem Pariser Gipfeltreffen über die Klimafragen, an dem beide Staatschefs teilnahmen, eine halbe Entschuldigung ausgesprochen, indem er öffentlich erklärte, er bedaure, was geschehen sei. Er sorgte auch dafür, dass der Leichnam des abgeschossenen und am Fallschirm ermordeten russischen Piloten – auf syrischem Territorium – aufgefunden, geborgen und an die russische Botschaft in Ankara übergeben wurde.
Doch die halbe Entschuldigung, bei der ein Schuldbekenntnis fehlte, war für Putin ungenügend. Es kam zu keinem Treffen der beiden Präsidenten in Paris, und Putin machte durch verschärfte Anschuldigungen und Verdächtigungen gegenüber der Türkei deutlich, dass er eine Versöhnung ablehne.
Putins Vorwürfe an die Türkei
Auf einer Pressekonferenz in Paris erklärte Putin wörtlich: «Wir haben gute Gründe, um anzunehmen, dass die Entscheidung, unser Flugzeug abzuschiessen, durch den Wunsch diktiert wurde, die Erdölbeschaffungslinien durch das türkische Territorium zu schützen. Diese gehen direkt zu den Häfen, wo das Öl auf Tanker geladen wird.» Und er fügte hinzu: «Wir verfügen über zusätzliche Informationen, die leider bestätigen, dass dieses Erdöl, das in Gebieten gefördert wird, die IS und andere Terrororganisationen kontrollieren, in industriellem Ausmass durch die Türkei transportiert wird.»
Präsident Putin erklärte auch, die meisten seiner Kollegen, mit denen er im Rahmen der Klimakonferenz von Paris gesprochen habe, hätten zugestimmt, dass es für die Türkei «nicht notwendig» gewesen sei, das russische Kampfflugzeug abzuschiessen. Weiter sagte er, der Plan einer grossen Koalition gegen die Terroristen, wie ihn Russland und Frankreich befürwortet hatten, sei durch die türkische Aktion ernsthaft gefährdet. Er hob hervor: «Wir werden immer solche Pläne befürworten, doch werden wir sie nicht verwirklichen können, solange gewisse Leute die terroristischen Gruppen gebrauchen, um ihre kurzfristigen politischen Interessen zu fördern.»
Ein Sprecher der russischen Luftstreitkräfte erklärte zudem, die russischen Kampfjets und Bomber seien nun mit Luft-Luft-Raketen ausgerüstet worden, die ihrer Verteidigung dienten. Diese Raketen sollen eine Reichweite von etwa sechzig Kilometern besitzen. Die Aussage kommt einer Warnung gleich, die besagt, dass es im Falle von weiteren Zusammenstössen an der türkischen Grenze zu Luftkämpfen kommen werde.
Erdogan: Beweise auf den Tisch!
Präsident Edogan liess es sich nicht nehmen, auf die russischen Erklärungen zu antworten. Etwas defensiver als Putin meinte er: «Wenn man etwas behauptet, sollte man es auch beweisen können. Sie sollten die Dokumente auf den Tisch legen, wenn Sie welche haben. Lassen Sie uns die Dokumente sehen! Wir handeln geduldig. Es ist nicht positiv für zwei Länder, die eine Situation erreicht haben, welche als eine strategische Partnerschaft gelten kann, emotionale Erklärungen abzugeben.»
Erdogan versprach sogar, er werde zurücktreten, wenn sich die Behauptung, die Türkei kaufe Erdöl von IS, als zutreffend erweisen würde. Er schlug auch vor, Putin solle das gleiche tun, wenn er unrecht habe.
Erdogan versprach auch, die Türkei werde mit Geduld und nicht emotional auf die Einschränkungen reagieren, die Russland beschlossen hatte. Doch er unterliess nicht zu erwähnen, dass die Turkmenen auf der syrischen Seite der Grenze «unter beständigen Bombardierungen» stünden. Diese Turkmenen gelten der Türkei als ihre engsten Freunde und Partner in Syrien. Ihre Kämpfer werden von der Türkei bewaffnet und ausgebildet.
Es ist ohne Zweifel schwer oder unmöglich, Beweise dafür zu erbringen, dass das aus dem «Kalifat» exportiert Erdöl von der Türkei gekauft werde. Putin behauptete dies auch nicht. Er sagte nur, dass es die Türkei durchquere, dies aber «in industriellem Massstab». Auch dies wird schwerlich formell und rechtsgültig zu beweisen sein.
Umstrittenes «kurdisches» Erdöl
Die Lage ist dadurch undurchsichtig, dass es «kurdisches» Erdöl gibt aus Bohrungen in irakisch Kurdistan (und heutzutage vielleicht auch aus dem umstrittenen Kirkuk, das die irakischen Kurden besetzt halten und als ihr eigenes Gebiet betrachten). Dieses Erdöl durchquert die Türkei, um exportiert zu werden.
Die Regierung von Bagdad ist der Ansicht, dies sei illegal, weil nur der irakischen Regierung zukomme, das irakische Erdöl zu fördern und zu verkaufen. Die Kurden sind anderer Ansicht. Ein Erdölgesetz, das für den ganzen Irak gültig wäre, liegt seit Jahren vor dem heimischen Parlament, ohne behandelt zu werden. Der Grund: die Kurden würden die bestehende Regierung zu Fall bringen, wenn das Gesetz in einer Weise formuliert werden sollte, dass es ihre Erdölinteressen annulliert. Es handelt sich daher um umstrittenes Erdöl, das über die Türkei ans Mittelmeer gelangt und ohne Zweifel Abnehmer findet, weil es zu reduzierten Preisen verkauft wird.
Verschleierter Handel mit Erdöl von IS
Doch dies ist nicht Erdöl des «Kalifates». Was mit diesem geschieht, ist sehr dunkel. Die allgemein verbreitete Vermutung ist, dass ein Teil des von IS geförderten Erdöls über Mittelsleute an die syrische Regierung Asads verkauft wird – also an die Freunde und Verbündeten Russlands. Asad kann ohne diese Einnahmen nicht auskommen. Ein anderer Teil, so vermuten die Beobachter, geht – ebenfalls über Mittelsleute – in die Türkei und dort auf den Schwarzmarkt und auch auf Tanker an der Mittelmeerküste.
Über die Mengen gibt es nur grobe und nicht überprüfte Schätzungen. Man kann vermuten, dass die Lieferungen aus dem «Kalifat» stark zurückgegangen sind, seitdem die Amerikaner sich entschlossen haben, die Lastwagenkolonnen zu bombardieren, die dieses Erdöl durch Syrien an die Nordgrenze transportieren. Diese Bombardierungen haben erst nach den Anschlägen in Paris vom vergangenen Monat ernsthaft begonnen.
Die Türkei hat stets abgestritten, dass sie Erdöl aus syrischen Quellen kaufe. Doch von Transit war bei diesen Dementis nie die Rede. Man kann vermuten, dass der türkische Geheimdienst recht genau über all diese Erdölfragen Bescheid weiss, wohl auch über die Identität der schattenhaften Mittelsleute. Dieser Geheimdienst untersteht theoretisch dem türkischen Ministerpräsidenten, doch in der Praxis direkt Erdogan. Sein Chef, Hakan Fidan, gilt als ein enger Vertrauter des türkischen Präsidenten.
Atomenergie und Gas aus Russland
Was die russischen Wirtschaftssanktionen gegenüber der Türkei angeht, so gibt es zur Zeit noch Bereiche, die von diesen Sanktionen nicht erreicht werden. Dazu gehört unter anderem die Frage eines von den Russen zu bauenden Atomkraftwerkes in Akkuyu (Provinz Mersin) am Mittelmeer. Es wäre das erste der Türkei. Russland soll bereits 3 Milliarden Dollars investiert haben. Die Gesamtkosten sind auf 20 Milliarden veranschlagt.
Erdogan hatte schon im Oktober nach dem Beginn der russischen Luftoffensive in Syrien erklärt, wenn die Russen dieses Projekt nicht durchführen, werde sich wohl ein anderer finden, der es übernähme. Doch bisher ist nicht die Rede davon, dass diese atomare Zusammenarbeit aufgegeben werden könnte. Unbestimmt erwähnt werden die russischen Erdgaslieferungen, die für die Türkei sehr wichtig sind. Nach Deutschland ist die Türkei der zweitgrösste Gaskunde Russlands. Sie kauft 27,3 Milliarden Kubikmeter (bcm), Deutschland 36 bcm. Doch ob diese Lieferungen, die über die Hälfte des türkischen Gasbedarfes decken, aufhören oder weiter andauern werden, ist offen.
Ein neues Grossprojekt war im Gespräch, nämlich eine zusätzliche Pipeline durch das Schwarze Meer in die Türkei und von dort weiter nach Europa unter Umgehung der Ukraine. Dieses scheint sistiert worden zu sein.
Visazwang und getrübte Beziehungen
Gegen hundert türkische Bauunternehmer sind in Russland tätig. Für sie wirkt sich der Boykott schon heute aus, weil der Personenverkehr zwischen Russland und der Türkei, der bisher visafrei war, nun dem Visazwang unterliegt. Besonders schwer wird der Tourismus betroffen sein, falls die Reibungen zwischen beiden Staaten in den kommenden Frühling hinein andauern.
Die Beziehungen zwischen den beiden Nationen sind getrübt. So klagen Türken darüber, dass sie seit dem Flugzeugabschuss vom russischen Publikum schlecht behandelt würden. Den neuen Ton zeigt die Erklärung eines Mitarbeiters des russischen Ministerpräsidenten. Dieser, Gennadiy Onischchenko, wird mit der Erklärung zitiert, das russische Volk verstehe, dass eine jede Tomate aus der Türkei mithelfe, noch eine weitere Rakete zu finanzieren, «die auf unsere Soldaten abgeschossen wird.»