Vor genau fünfzig Jahren sorgte der amerikanische Philosoph Thomas Nagel für Perplexität in der philosophischen Welt mit seiner Frage «Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?» Eine solche Frage war ungewohnt, weil das Problem des «Fremdpsychischen», wie man es in einschlägigen Kreisen nannte, sich doch eher auf Menschen beschränkte, und die Befindlichkeit von Tieren – ihre artspezifische Perspektive – kein Thema von hohem Diskussionswert war.
Das hat sich geändert. Die Frage ist nicht bloss philosophisch von Belang, sie führt uns eigentlich mitten ins Herz der ökologischen Krise, der Entfremdung des Menschen von der Natur. Heute lautet die Frage nicht nur, wie es ist, dieses oder jenes Tier zu sein, sondern, wie man dieses oder jenes Tier sein kann. «Being a Beast» lautet zum Beispiel der Titel eines Buchs des britischen Tierarztes, Rechtsanwalts und Schriftstellers Charles Foster aus dem Jahr 2016 (deutsch «Der Geschmack von Laub und Erde»). Er liess sich auf ein skurriles Experiment ein. Er wollte nicht bloss ein Verhaltensforscher sein, sondern sich selbst wie ein Tier verhalten. Nicht einfach den Dachs beschreiben, sondern am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn man in einer Erdhöhle haust, durch Gras und Farn kriecht, den Waldboden erschnüffelt, Würmer zerbeisst. Oder wie der Otter im kalten Bach auf Fische lauert. Oder wie der Fuchs in Stadtparks und stinkenden Hinterhöfen lebt, sich von Abfällen ernährt.
Weg vom anthropozentrischen Blick
Bücher wie jenes von Foster begründen schon seit längerem ein eigenes Genre: Nature Writing. Kurz gesagt handelt es sich um das Bemühen, das Verhältnis Mensch-Tier sozusagen literarisch umzukehren, es aus tierlicher Perspektive zu sehen. Man sucht sich vom anthropozentrischen Blick auf das Tier zu lösen, der in der «westlichen» Kultur bislang vorherrscht. Und da dieser Blick primär von der zivilisierten Lebensweise moderner Gesellschaften geprägt ist, erweist sich die Frage nach dem Tiersein immer auch als implizite Kritik an einer Haltung, die das Wilde, Ungezähmte, Unkontrollierte – eben: Animalische – nicht tolerieren kann. Wie dies die französische Anthropologin Nastassja Martin im Titel ihres vielbeachteten Buchs schreibt: «An das Wilde glauben» (deutsch 2023).
Das Genre boomt, was sich sowohl als Anzeichen einer gewissen Zivilisationsmüdigkeit wie einer ökologischen Sensibilität deuten lässt. Seit 2017 gibt es einen Preis für Nature Writing in der deutschsprachigen Literatur. Die Verabschiedung von einer gängigen anthropozentrischen Naturbeschreibung kann im Besonderen zu ziemlich extravaganten Beispielen führen, wie etwa der Erfahrung, von einem Krokodil fast gefressen zu werden. Die australische Philosophin Val Plumwood hat dieses existenzielle Ereignis in ihrem Buch «The Eye of the Crocodile» (2013) geschildert. Sozusagen aus der Perspektive «Wie ist es, ein Stück fressbares Fleisch zu sein?»
Die Lesbarkeit der Natur
Die Frage hat zweifellos das Zeug, das Selbstverständnis des Menschen zu erschüttern, indem sie ihn gewissermassen in die natürliche Nahrungskette eingliedert. Ob man auf diese Weise ein «authentischeres» Verständnis des Tierlebens gewinnt, bleibt indes fraglich. Man leiht den Tieren eine Sprache, aber die Sprache ist und bleibt menschlich. Wie präzise und einfühlsam – «schamanistisch» – man ein Tier beschreibt, die Beschreibung macht einen nicht zum Tier.
Wozu auch? Eigentlich geht es im Nature Writing nicht um die Natur, sondern um die Lesbarkeit der Natur. Sie steht seit dem 17. Jahrhundert im Zeichen einer dominierenden Metapher: des Buches der Natur, das in mathematischen Lettern geschrieben ist. Darin äussert sich, etwas allgemeiner formuliert, der Anspruch, die Natur am besten in der objektivierenden wissenschaftlichen Sprache zu verstehen. Und als Repräsentantin dieses Anspruchs gilt die Frage aus der ethologischen Distanz «Wie verhält sich ein Tier in seiner Umwelt?». Sie klammert genau die andere Frage «Wie ist es, ein Tier zu sein?» aus. Paradox daran ist, dass man die Frage letztlich nicht beantworten kann, und sie trotzdem immer wieder stellt, als ob sich darin eine tiefsitzende Sehnsucht nach dem nichtmenschlich Anderen äusserte. Man versucht, in der Imagination auf die «andere Seite» der Natur hinüberzusetzen. Wie das traditionellerweise die Fabel tut.
Nature Writing ist nicht Naturkunde
Letztlich ist Nature Writing nicht alternative Naturkunde, sondern die Suche nach einer verlorenen Sprache für die Natur. Der britische Fotograf Dominick Tyler hat mit seinem Buch «Uncommon Ground» (2015) einen «Führer für Wörterliebhaber» geschrieben, einen Diktionär für ganz bestimmte Landschaftsphänomene in Grossbritannien. Er reagiert damit auf einen Befund, den man «Naturanalphabetismus» nennen könnte. Davon berichtet der britische Schriftsteller Robert Macfarlane in seinem Buch «Landmarks» (2015). Er weist auf ein Symptom des Naturanalphabetismus hin. Der Oxford Junior Dictionary, ein Nachschlagewerk für Kinder, hat eine Vielzahl von Wörtern für die Natur getilgt. Sie seien für ein Leben in den heutigen Umwelten nicht mehr relevant: zum Beispiel Eichel, Kreuzotter, Esche, Buche, Weidenkätzchen, Löwenzahn, Heide, Efeu, Mistel, Wiese. An ihrer statt nimmt der Diktionär jetzt Begriffe auf wie Attachment, Block-Graph, Blog, Breitband, Chatroom, MP3-Player, Voice-Mail.
Nichts drückt den fundamentalen Wandel gegenüber unserer Umwelt drastischer aus als dieser Vokabularwandel. Eine unscheinbare, aber symptomatische Verschiebung. Wir vermüllen die Natur nicht zuletzt dadurch, dass wir das Naturvokabular zum Abfall werfen. Wir bemerken nicht, dass Sprachverödung nur eine Seite der Naturverödung ist.
Die «liminale» Zone zwischen Mensch und Tier
Und genau hier, im Arbeiten gegen diesen Trend, gewinnt das Genre des Nature Writing seine genuine Bedeutung. Es sucht nach eine Sprache für das «Unaussprechliche» in der Natur. Das zeichnet das Buch der bereits erwähnten Autorin Nastassja Martin aus. Sie studiert als Anthropologin den Animismus unter «Naturvölkern». In Sibieren wurde sie von einem Bären angefallen, ins Gesicht gebissen. Sie überlebte. Statt dieses Erlebnis nun in wildnislüsterer Abenteuerprosa auszuschlachten, wählt sie eine Form des Essays, in dem sie ihre Perspektive als «westliche» Wissenschaftlerin hinterfragt, und die «liminale» Grenzzone zwischen Menschsein und Bärsein fassbar zu machen sucht. Sie, die Erforscherin des Animismus, erlebt durch das «Andere» des Bären eine animistische Initiation. Bin ich wahnsinnig geworden?, fragt sie sich. Erschliesst sich im Wahnsinn die Seelenverwandtschaft des Bären?
Verlusterfahrungen lesbar machen
Der Horizont weitet sich sogar über das Organische hinaus. So beschreibt zum Beispiel die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky in ihrem Buch «Schiefern» (2020) poetisch ehemalige Schieferabbaugebiete auf den Hebriden. Verlassenes, steiniges, postindustrielles Gelände, dem sie zu «schiefriger Mundart» verhilft, indem sie dafür eine Sprache schafft. Sie hat auch gleich einen Gattungsbegriff kreiert: «Geländeroman». Und zwar in ausdrücklicher Absetzung von einem «lyrischen» Landschaftsbild, das in der Regel die Verbundenheit von Mensch und Natur evoziert. Bei Kinsky existiert sie nicht. Vielmehr zeigt ihr literarisches Lapidarium gerade das Gegenteil: nicht die Reanimierung einer vermeintlich ursprünglichen Familiarität alles Lebenden, sondern die Relikte eines unaufhaltsamen Kahlschlags unserer Umwelten. Gerade diese Art von Nature Writing macht Verlusterfahrung lesbar. Wir kehren nicht zurück zur Natur, sondern zu einer Sprache für die verlorene Natur.
Wortschöpfung ist Wertschöpfung
Es verschwinden nicht nur biologische Arten, es verschwinden auch linguistische Arten. Biodiversität heisst immer auch Sprachdiversität. Naturpflege ist Sprachpflege. Sprache kann zum Sehen verhelfen. Wie die Schriftstellerin Marion Poschmann – ebenfalls im Genre tätig – bemerkt, kann gerade die Literatur «den (nichtpekuniären) Wert der verschwindenden Lebensräume, der verschwindenden Arten vor Augen führen». Zur Rettung unserer Umwelt trägt bei, dass wir über sie sprechen lernen. Wortschöpfung ist Wertschöpfung.