Kommunikation basiert auf dem Austausch von Aufmerksamkeit, auf einem „Ausgeben“ und „Einnehmen“ von Beachtung. Die ökonomische Konnotation dieses fundamentalen intellektuellen und emotionalen Tauschhandels ist nicht zu überhören. Es erstaunt deshalb nicht, dass sich so etwas wie ein neues Paradigma in der Beschreibung und Erklärung menschlicher Transaktionen etabliert hat: die „Ökonomie der Aufmerksamkeit“. Eingeführt wurde der Begriff in den 1990er Jahren vom amerikanischen Physiker Michael A. Goldhaber, in Europa vom Architekten und Ökonomen Georg Franck. Letzterer prägte insbesondere das Konzept des „mentalen Kapitalismus“, also einer immateriellen Wirtschaftsform, die sich zunehmend unseres kulturellen und sozialen Lebens bemächtigt, mit den Charakteristiken des alten, materiellen Kapitalismus, als da sind: Beachtung anstelle von Geld als universeller Währung, Akkumulation von Aufmerksamkeit durch die Stars als „Kapitalisten“ – die „Celebrities“ –, Ausbeutung in Gestalt jener grossen Masse von Fans, die keine Beachtung horten, sondern immer nur Beachtung ausgeben.
Die Frage nach der Ökologie der Aufmerksamkeit ist dringend
Aufmerksamkeit und Umgebung, auf die sie gerichtet ist, gehören zusammen. Ändert sich die Umgebung, ändert sich auch die Aufmerksamkeit. Die Frage stellt sich also, welche Arten von Aufmerksamkeit in den neuen medialen Umwelten gedeihen und welche verkümmern, eine Frage der Ökologie. Eine dringende Frage. Aufmerksamkeit ist die mentale Raffinerie, die den Rohstoff Information zu Wissen veredelt. Das heisst, Aufmerksamkeit ist ein Vermögen, das gelernt und gewartet werden muss. Traditioneller Ort solchen Lernens ist die Schule. Seit dem späten 18. Jahrhundert gehört die Aufmerksamkeit zum pädagogischen Schleifstein bürgerlicher Bildung und Disziplin. Wie steht es mit dieser Bildung und Disziplin des Netzbürgers?
Beispiel Schule
Seit einiger Zeit zeichnet sich in der Schule ein Umbruch ab, den man bündig so umreissen könnte: Die Lehrperson steht nicht mehr im Fokus der zentripetalen Schülerblicke, verdient nicht mehr „umsonst“ die Aufmerksamkeit der Klasse. Der Spiess scheint sich sogar zu wenden. War es einst der Schüler, der durch sein Verhalten und seine Leistung die Aufmerksamkeit des Lehrers zu verdienen hatte, so muss heute vermehrt die Lehrperson bei ihrer Klientel um Beachtung buhlen. Sie wird zum „Medium“ unter anderen.
Der Schüler, der während des Unterrichts klandestin die Gratiszeitung liest oder sein iPhone bedient, ist schon fast zur Emblemfigur geworden. Dass Heranwachsende heute ihre Sozialisation und Enkulturation vorzugsweise über das Unterhaltungs-, Spiel- und Kommunikationsangebot der digitalen Medien erfahren, steht ausser Frage. Bildung migriert sozusagen von den physischen Lehrpersonen, Lehrbüchern und Klassenzimmern hinüber zu den selbstgewählten virtuellen Plattformen. Das Bildungsmonopol der Schule bröckelt, und die Promotoren des neuen Lernens, die sich als neue Elite verstehenden „Digerati“, feiern das Netz grosssprecherisch als Emanzipation von alten „diktatorischen“ Erziehungsstrukturen.
Eine Komparatisik der Aufmerksamkeiten
An dieser Stelle muss die Frage nach den Formen der Aufmerksamkeit in den neuen Medien ansetzen. Genauer: Wir brauchen eine Komparatistik der Aufmerksamkeiten, dies umso mehr, als sich mit den elektronischen Medien nun der Vergleich mit etwas wirklich Anderem anbietet. Betrachten wir ein Beispiel. Die Praktiken des traditionellen Unterrichts waren grösstenteils monomodular, d. h. ein bestimmter Aufmerksamkeitsmodus führte uns sozusagen durch die Aufgabe. Man las einen Text, löste ein mathematisches Problem, zeichnete ein Porträt, hörte ein Referat oder Musikstück. Mit der Gewöhnung an multimodulare Medien, die einem bei schwindender Aufmerksamkeit die simultane „Flucht“ in einen andern Modus gewähren (statt zu lesen, klicke ich mich ins Netz), wird nun auch das „Switchen“ der Aufmerksamkeit zum Normalfall.
Groupiness
Falsch wäre es, daraus auf das Verschwinden der herkömmlichen Medien, speziell des Buchs, zu schliessen. Das Buch ist jetzt einfach eine Option in einer erweiterten Palette der Schreib- und Lesemöglichkeiten. Aber infolge der elektronischen Medien lässt sich durchaus eine neue Textaufmerksamkeit beobachten. So scheint sich z. B. durch die interaktive Blogkultur auch immer mehr ein Stil durchzusetzen, den der amerikanische Essayist Caleb Crain „Gruppismus“ (groupiness) genannt hat: Wichtig ist nicht, was man sagt, sondern dass man etwas sagt. Man schreibt und liest primär nicht um des Inhalts willen, sondern um dazuzugehören. Wir kennen dieses Schnatter-Verhalten von den Affen im Wald.
Eine neue Jäger-und-Sammler-Kultur
Es ist abzusehen, dass bei künftigen Generationen der Umgang mit den neuen Medien ins Unbewusste sinken wird, so wie ja auch der Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit im Wesentlichen auf der Routine, dem Unbewusstwerden des Mediums Alphabet beruht. Dieses Einsinken der neuen Technologien in das Verhalten der Digital Natives ist meiner Meinung nach das zentrale medienökologische Ereignis in der heutigen Gesellschaft. Vor nicht allzu langer Zeit las ich in einem Blog, dass man in Internetforen Konzentration und vertiefendes Nachdenken als „obsessiv“ bezeichne und Leute mit diesen Fähigkeiten als „gruselig“ gelten. Schon seit einiger Zeit weisen Medientheoretiker auf einen technik-induzierten Umbau in unserer mentalen Disposition hin. Peter Matussek z. B. hat zu bedenken gegeben, dass die Lebensbedingungen im Informationszeitalter einer neuen Datenjäger-und-Sammler-Kultur förderlich sind, die entsprechende Tugenden wie Vigilanz brauche, also die Fähigkeit, möglichst schnell seine Aufmerksamkeit von einem Objekt auf das andere zu verschieben, so wie ehedem bei den Prähominiden der vorsesshaften Zeit. „Sesshaftigkeit“ der Aufmerksamkeit gehört so gesehen zu einer vor-digitalen Ära. Wir nähern uns in der digitalen Ära dem Prähominiden.
„Aufgabenswitch-Störung“
Eine Uminterpretation liegt dann nahe: Störungen wie Aufmerksamkeitsdefizit (ADHS) sind im Grunde normal, und einstige Tugenden wie Konzentration und Fokussieren werden zum Krankheitsfall. Genau dies ist die These des amerikanischen Hansdampfs Thom Hartmann in seinem Buch „Eine andere Art die Welt zu sehen“: Statt von Aufmerksamkeits-Störung solle man doch eher von „Aufgabenswitch-Störung“ (Task-Switching-Deficit-Disorder, TSDD) sprechen. Wer also wie er permanent von einem Job zum nächsten „switcht“ – Journalist, Romanautor, Verleger, Pilot, Entwicklungshelfer, Privatdetektiv, Alternativmediziner, Elektrotechniker, Firmenberater, Gründer von Gesundheitszentren und Heimen –, ist der Mustertyp der heutigen Berufswelt; wer sich dagegen lange einer einzigen Aufgabe widmet, riskiert womöglich bald schon, als „Überfokussierer“ ins psychiatrische Handbuch aufgenommen zu werden.
Sterben gewisse Aufmerksamkeitsarten aus?
Hartmanns Umwertung hat einen polemischen Einschlag (er leidet selber unter ADHS), aber sie ist insofern ernst zu nehmen, als sie sogenannte „Defizite“ und „Schwächen“ relativiert und in einen jeweiligen historischen, sozialen und kulturellen Kontext einbettet. Dadurch akzentuiert sie noch ein weiteres, wahrscheinlich nachhaltigeres Problem. Denn spricht man von „Ökologie“ der Aufmerksamkeit, fällt schnell ein Schatten über den Begriff. Wie in der Biologie fragt sich auch in der Kultur: Sterben gewisse Aufmerksamkeitsarten aus? Altehrwürdige Kulturtechniken wie das Lesen eines Buches, das Schreiben von Hand, das Gespräch von Angesicht zu Angesicht, das konzentrierte, geduldige Verfolgen einer Aufgabe? Wer so fragt, dramatisiert natürlich, und es mangelt heute nicht an Autoren, die die alten und neuen Medien zu einem Grosskampf der Kulturen aufbieten.
Wahre Aufmerksamkeit ist eine Extremerfahrung
Eine solche Frontenbildung verdeckt aber das eigentliche Problem, nämlich Ökonomie und Ökologie der Aufmerksamkeit in den neuen medialen Umwelten auszubalancieren. Und das bedeutet auf individueller Ebene, dass jeder Techniknutzer für sich ein labiles Gleichgewicht zwischen Sammlung und Zerstreuung, Geduld und Ungeduld, Informationssättigung und Neugier findet.
Als ersten Schritt empfehle ich einen kleinen täglichen Selbsttest. Man sitze irgendwo hin – möglichst an einen reizarmen, belanglosen, unhektischen Ort – und schenke der Umgebung während fünf Minuten seine volle Aufmerksamkeit: dem Boden der Dusche, einem Stück Rasen am Bahnbord, dem Bildschirm des ausgeschalteten Computers. Halte ich diesen Offline-Modus aus? Wer das kann, lernt, dass wahre Aufmerksamkeit zu tun hat mit dem Ertragenkönnen von Leere und Langeweile. Mit Wartenkönnen. Warten lässt einen in einer Gegenwart ankommen, aus der man sich nicht herausklicken kann – bei sich selber. Wahre Aufmerksamkeit ist – ernst genommen – eine Extremerfahrung. Sie kann uns – in einem zweiten Schritt – lehren, dass die Offline-Existenz gerade durch die Online-Existenz an neuer, vitaler Bedeutung gewinnt.
Eine buddhistische Anekdote
Diese Entdeckung erinnert an eine buddhistische Anekdote: Ein Schüler sieht, wie sein Meister beim Morgenessen die Zeitung liest und Radio hört. „Aber Meister“, sagt der Schüler, „du hast uns doch gelehrt, immer nur eines zu tun, beim Essen ganz beim Essen zu sein, beim Lesen ganz beim Lesen, beim Hören ganz beim Hören.“ „So ist es“, erwidert der Meister, „und wenn man isst-und-liest-und-hört, dann soll man ganz beim Essen-und-Lesen-und-Hören sein.“