Spätestens in der zweiten Julihälfte werden die Temperaturen bis in die Nähe der 40 Grad Celsius-Marke steigen und das Leben ohne Klimaanlage zur Qual machen, in Wolkenkratzern aus Stahlbeton und Glas ebenso wie im gemütlichen Einfamilienhaus.
Die Tokyo-Region kann keinen Strom einkaufen
Andere Optionen gibt es nicht. Schnell einige Hunderttausend Kilowattstunden Strom zur Deckung des Spitzenbedarfs bei den Nachbarn im Ausland kaufen, ist nicht möglich. Stromverbünde sind in Nordostasien schon technisch nicht machbar, denn die Leitungen müssten übers Meer führen. In Japan selbst bestehen zwei Frequenzzonen: Das Gebiet um Tokyo und der gesamte Norden benutzt Wechselstrom mit der Frequenz von 50 Hz. Das Gebiet westlich von Tokyo und nach Süden bis Okinawa hat die Frequenz von 60 Hz.
Dazwischen gibt es ein paar Umspannwerke, aber deren Kapazität reicht für den Transfer grosser Strommengen von West- nach Ostjapan nicht aus. Tokyo und sein Umland müssen sich also selbst mit Strom versorgen. Anders gesagt: Im Raum um Tokyo sind ungefähr 30 Millionen Menschen von ihrem Stromversorger Tepco abhängig, der Betreiberfirma der beiden Kernkraftwerke in Fukushima.
Tepco (Tokyo Electric Power Company; Japanisch: Tokyo Denryoku Kabushiki Kaisha) ist das viertgrösste Elektrizitätsunternehmen der Welt (nach E.On, Electricité de France und RWE). Es entstand im Jahr 1951, als der bis dahin staatliche Stromversorger privatisiert und in zehn regionale Monopolaktiengesellschaften aufgespalten wurde. Diese pflegten enge Kontakte zur Regierung, besonders während der gut fünfzig Jahre, in denen die Liberaldemokratische Partei die Politik allein oder im wesentlichen bestimmte.
Kungelei zwischen Regierung und Stromindustrie
Die guten wechselseitigen Beziehungen halfen beim Kampf gegen Wettbewerb und die Liberalisierung des Strommarkts ebenso wie gegen gelegentlichen Unmut über den Bau von Kernkraftwerken in der Bevölkerung. Tepco setzte früh auf Atomkraft: der erste Reaktor im ältesten Kernkraftwerk, mithin in Fukushima Nr 1, ging am 26. März 1971 ans Netz, fast auf den Tag genau vierzig Jahre vor dem Beben. Die Technik für diesen und drei weitere Reaktoren holte man sich aus den USA, die Sicherheitsstandards ebenso. Seit dem Beben, man weiß es, fliesst kein Strom mehr aus den inzwischen zehn Reaktoren der beiden Kernkraftwerke in Fukushima. Der Ausfall summiert sich auf die 25 Prozent, die jetzt fehlen.
Der Gedanke an planmäßige Blackouts ist eine Horrorvorstellung, die während der ersten beiden Wochen nach dem Beben schon einmal Realität war: Produktionseinschränkungen in der ohnehin durch die Zerstörungen und Lieferengpässe gebeutelten Industrie; rückläufiger Umsatz zumal in Kleinbetrieben wie Restaurants, da die Kundschaft wegbleibt; massive Beeinträchtigungen des häuslichen Lebens, denn ohne Strom gibt es nicht nur kein Licht, kein Fernsehen, keinen laufenden Kühlschrank, sondern auch kein Wasser.
Wie spart man 25 Prozent Strom sofort?
Das drückt aufs Gemüt, auch wenn der Strom nach drei Stunden wieder planmäßig fließt. Also ist die Entscheidung eigentlich klar, weniger Strom zu verbrauchen. Die Frage ist nur: wie spart man 25% Strom sofort, nicht erst nach einer „Übergangsphase“ von vielleicht zwanzig Jahren und ohne eine weggebrochene Energiequelle – mindestens teilweise und kurzfristig – durch eine andere ersetzen zu können?
Die in der Regierung fürs Stromsparen zuständige Ministerin Bo Ren von der Demokratischen Partei Japans gab sich am 29. März demokratisch: nicht bevormunden wollte sie, sondern forderte, die Unternehmen sollten ihre eigenen Stromsparpläne vorlegen. Es sei wirkungsvoller, wenn die Unternehmen aus eigener Initiative handelten als auf Diktat der Regierung.
Die Aufforderung indes war für manche Unternehmen unnötig; denn sie hatten bereits zu handeln begonnen. East Japan Railroad (JR Higashi Nihon) zum Beispiel, das größte Bahnunternehmen Japans, schaltet Lampen auf Bahnsteigen und in Unterführungen aus oder reduziert die Beleuchtung, lässt Rolltreppen stehen, verringert die Zahl der Züge ausserhalb der Stosszeiten, schaltet in den Zügen die Klimaanlagen ab, wann immer dies möglich ist. Das Unternehmen produziert einen wesentlichen Teil des erforderlichen Stroms selbst (ohne Kernkraftwerk) und kann Tepco mit den Überschüssen aushelfen. Die Fahrgäste protestieren nicht.
Ein Unternehmen, das in Tokyo und Umgebung mehr als 3000 Filialen kleiner Ladengeschäfte für den täglichen Bedarf an vielen belebten Strassenecken betreibt (sogenannte Convenience Stores), will in Kürze das Sparziel von 25 Prozent durch Einbau energiesparender Beleuchtung, den Einsatz von Solartechnik und Änderungen im Geschäftsablauf erreichen. Das Unternehmen wirbt mit seinen Sparentscheidungen. Die Konkurrenz zieht nach.
Gouverneur Ishiharas grosser Coup
Doch den grossen Coup landete Shintaro Ishihara, der 78jährige, gerade am 10. April für seine vierte Amtszeit wiedergewählte Gouverneur von Tokyo. Bekannt für markige Sprüche, die früher eine eher rechte Klientel bedienten – Ishihara, ehemaliges Regierungsmitglied und liberaldemokratisches Urgestein, wurde bekannt im Jahr 1989 als Mitautor eines tendentiell anit-amerikanischen Buchs mit dem Titel „ Das Japan, das Nein sagen kann“ –, sagte er jetzt Nein zur Stromverschwendung und machte am Tag nach seiner Wiederwahl klar, dass die unzähligen Verkaufsautomaten, aus denen man Getränke, Zigaretten und manches andere ziehen kann, viel Strom verbrauchen (landesweit ungefähr das Äquivalent der Produktion von zwei Atomreaktoren). Man solle, forderte er, das Leben mit hohem Stromkonsum überdenken. Konkret: schafft die Verkaufsautomaten ab.
Die mit der Herstellung, dem Betrieb und der Bestückung der Automaten betrauten Unternehmen verstanden die Botschaft und haben sofort reagiert: alles täten sie, um den Stromverbrauch der Automaten zu senken. Politiker anderer Parteien verstanden Ishiharas Botschaft. Am 15. April legte die Fraktion der Demokratischen Partei im Stadtparlament von Tokyo den Entwurf einer Verwaltungsvorschrift vor, die das Abschalten der Automaten tagsüber „empfiehlt“. Ministerin Ren zeigt sich indes skeptisch, ob die Bevölkerung diesen Eingriff von oben in lieb gewordene Gewohnheiten akzeptieren werde.
In Läden und Zügen Klimaanlagen abschalten
Es sieht indes so aus, als sei die Skepsis der Ministerin unangebracht. Denn die auflagenstärkste Wirtschaftstageszeitung Nihon Keizai Shinbun führt fortlaufend eine Hitliste derjenigen Sparvorschläge, die ihr die Bevölkerung zugeträgt. Am häufigsten wird gefordert, Sehenswürdigkeiten nachts nicht anzustrahlen, knapp dahinter rangiert der Plan, die Klimaanlagen in Privathäusern und -räumen abzuschalten oder in der heißen Jahreszeit auf 27 Grad Celsius hochzufahren.
Danach folgen die Vorschläge zum Einbau von LED-Lampen; auf Neon-Außenreklame zu verzichten, sie zu dimmen oder früher auszuschalten; in den Ladengeschäften und in den Zügen die Klimaanlagen abzuschalten und bei der Beleuchtung zu sparen; die Öffnungszeiten für Freizeitanlagen einzuschränken; in den Büros und Amtsstuben auf förmliche Kleidung zu verzichten; und die Verkaufsautomaten abzuschaffen.
Befürworter eines AKW-Ausstiegs noch in der Minderheit
Am 18. April brachte die Tageszeitung ""Asahi Shinbun" die Ergebnisse einer landesweiten Umfrage zu Einstellungen über die Nutzung von Kernenergie seit dem Beben vom 11. März 2011. Danach sind 51 Prozent der Befragten mit dem derzeitigen Umfang der Nutzung einverstanden, 5 Prozent wollen mehr Kernkraftwerke, 30 Prozent wollen die Zahl der Kernkraftwerke verringern und 11 Prozent ganz aus der Kernenergie aussteigen.
Aussagekräftig werden die Zahlen im Vergleich zu der vorigen Umfrage gleichen Inhalts nach dem grossen Erdbeben in der Präfektur Niigata am 16. Juli 2007. Damals hatten sich unter dem Eindruck eines amals als sehr schwer erfahrenen Bebens, das ein Kernkraftwerk beschädigte, 53 Prozent der Befragten für die Beibehaltung der damaligen Zahl der Kernkraftwerke ausgesprochen, 13 Prozent waren für den Bau weiterer Kernkraftwerke eingetreten, 21 Prozent hatten deren Zahl reduzieren und 7 Prozent ganz aussteigen wollen.
Im Vergleich zu der damaligen Umfrage ist zwar die Zahl der mit dem gegenwärtigen Zustand Zufriedenen um 2 Prozent nur leicht gesunken. Aber am Rand des Meinungsspektrums vollzieht sich ein erdrutschartiger Umschwung. Die Zahl der Befürworter des Baus weiterer Kernkraftwerke ist um fast zwei Drittel gesunken, die Zahl der Befürworter des Ausstiegs um mehr als die Hälfte und der Verringerung der Zahl der Kernkraftwerke um fast ein Drittel gestiegen.
Die Aussicht, dass der Verzicht auf Kernenergie zu Kürzungen des Stromverbrauchs führt, sehen keineswegs alle als Schreckensvision. Die Bevölkerung, mindestens in Tokyo, demonstriert massiven Sparwillen, ohne dazu immer wieder auf die Strasse zu gehen. Durch Mitmachen scheint das Sparziel von 25 Prozent kurzfristig erreichbar.
Zugestanden: die Sparvorschläge sind zumeist Kleinklein, viele sind kurzfristig angelegt und wenige tun wirklich weh. Noch liegen von den Stromgrossverbrauchern im produzierenden Gewerbe keine eigenen Sparpläne vor. Immerhin aber haben einige kleinere Unternehmen mit Zustimmung ihrer Belegschaft bereits angekündigt, im Sommer die Arbeitszeiten in die Abend- und Nachtstunden zu verlegen, damit sie in der Mittagszeit Strom sparen können. Andere Unternehmen werden selbst lokal Strom produzieren, dabei Solartechnik einsetzen, Kogenerierung fördern und den Ausbau von Smart-Grid-Netzen beschleunigen, die seit längerem geplant sind.
Das Sparziel von 25 Prozent ist an Investitionen verbunden, die langfristig angelegt sind. Die dazu sofort nötigen Einschränkungen sind akzeptiert, weitere, diejenigen, die nötig werden, scheinen akzeptabel.
Protest gegen die zivile Nutzung von Atomkraft kommt von einigen direkt Betroffenen, die aus der Sperrzone um das Kernkraftwerk Fukushima sowie aus einigen anderen Orten mit hoher Strahlenbelastung ausgesiedelt werden müssen, und einigen Demonstranten, die ab und zu vor das Gebäude der Hauptverwaltung von Tepco ziehen. Der stille Protest aber ist wirksamer. Wer dauerhaft in Tokyo und Umgebung Strom spart, entzieht Tepco langfristig Einkünfte.
Atomstrom wird für Betreiber unbezahlbar
Tepco hat schon reagiert: Der Betreiber fügt sich in das ohnehin Unvermeidbare und verkündet, das havarierte Kernkraftwerk in Fukushima für immer stillzulegen. Der Stromversorger hat seit dem Beben keinen neuen Plan zum Bau eines neuen oder zur Erweiterung eines bestehenden Kernkraftwerks als Ersatzmassnahme vorgelegt. Schon jetzt ist Atomstrom für Tepco buchstäblich unbezahlbar geworden. Denn per Gesetz sind die Betreiber von Kernkraftwerken unbegrenzt für alle Schäden aus Unfällen haftbar, in voller Höhe.
Wie lange der derzeitige Sparwille anhält, bleibt offen. Dennoch schreit das havarierte Kernkraftwerk Fukushima die Botschaft in die Welt: Kehrt um! Es geht nicht nur darum, eine Technik der Stromerzeugung durch andere zu ersetzen, sondern auch darum, den Stromverbrauch zu kappen, für alle für immer.