Zum Teil gab es diese Länder nur dem Namen nach oder sie existierten allenfalls bloss einen Tag und sind auf keiner Landkarte der Welt zu finden. Aber es gibt auch zähe Randexistenzen. Das Werk ist ernst gemeint: Der Autor Nick Middleton lehrt als Geograph an der renommierten Universität von Cambridge.
Kennen Sie Sealand?
Die „Insel“ ist eigentlich eine Stahlbeton-Plattform und hat bloss 27 Einwohner. Gegründet wurde Sealand von Roy Bates und seinem Sohn Michael und es war eher eine Besitznahme als eine Staatsgründung: Die Engländer hatten die Festung während des Zweiten Weltkriegs in die Nordsee gebaut, um frühzeitig Luftabwehrraketen gegen deutsche Jagdflieger schiessen zu können. Nach Kriegsende wurde die Plattform von der Armee aufgegeben. Der Besitzer einer grossen Schlachtereikette hörte davon, richtete sich ein und betrieb von dort einen Piratensender mit Popmusik. Das war zwar illegal, aber da sich das „Land“ ausserhalb der britischen Hoheitsgewässer befindet, ist das Problem bis heute ungelöst.
Als Michael einmal englischen Boden betrat, wurde er verhaftet und angeklagt – er hatte von „seiner“ Plattform aus nach einem Wortgefecht auf einen ankommenden Techniker geschossen. Das Gericht erklärte sich jedoch für nicht zuständig: Der Zwischenfall hätte ausserhalb Englands stattgefunden, womit indirekt belegt war, dass „Sealand“, wie die Insel mittlerweile getauft wurde, niemandem gehört und friedlich besetzt werden konnte. Eine eigene Flagge wurde kreiert, Michael erklärte sich zum Prinzregenten, sein Sohn „Prinz Freddy“ tritt die Erbfolge an. Den wenigen Bewohnern an Bord werde es aber immer wieder etwas mulmig, wenn Kriegsschiffe sich jeweils durch die aufgepeitschte Nordsee allzu sehr der Plattform nähern würden, gab ein Mitglied der Herrscherfamilie zu.
Transnistrien: Zwischen Chaos und Wohlstand
Hauptstadt Tiraspol – wohl noch nie gehört? Kein Wunde: Der Landstreifen auf der linken Uferseite des Dnjepr hat sich von Moldawien losgesagt, zählt sich noch immer zur alten Sowjetunion gehörig, liegt aber an der Westgrenze der Ukraine, die ja bereits auf ihrer Ostseite mit dem „Freistaat“ Krim ihre liebe Mühe hat. Transnistrien hat zwar nur eine Fläche von 4,16 Quadratkilometern aber immerhin 518 700 Bewohner. Die Staatsflagge trägt in der linken oberen Ecke noch Hammer und Sichel als Emblem und dokumentiert damit, dass man sich hier immer noch als Russen fühlt und dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion trotzt. Immerhin belieferte man in früheren Zeiten das 500 Kilometer entfernte Russland täglich und reichlich mit frischem Obst und Gemüse.
Dieser Kaufmannsgeist herrscht in Transnistrien noch immer vor, was zu einer eigentümlichen Mischung aus Kommunismus und Kapitalismus führt und – so sieht es zumindest Europa-Brüssel – einen Tummelplatz für Geldwäscher, Menschen- und Waffenhändler schafft.
Das Land ist ein grosses Privatunternehmen, das – gemäss Atlas - „Tankstellen und Supermarktketten kontrolliert, ein Mobilfunknetz und den führenden Fussballklub des Landes, den FC Sheriff Tiraspol, betreibt. Es ist somit der grösste Arbeitgeber und Grundbesitzer des Landes. Die Bezeichnung ‚Sheriff’ verweist auf den Haupberuf des Amtsinhabers bei der Staatssicherheit. Auf seiner Webseite verspricht er, ‚immer bei dir zu sein’.“ A propos: Das Korrekturprogramm auf meinem Computer unterstreicht „Transnistrien“ jedes Mal noch mit einer roten Linie als ihm unbekannter Begriff…
Landeshymne nach „Oh Tannenbaum…“
Im Dreiländereck zwischen den Niederlanden, Belgien und Preussen existierte kurz nach der Jahrtausendwende ein Zwergstaat namens Morsenet nahe einer strategisch wichtigen Zinkmine, die sich die drei Länder streitig machten. Wenn drei sich streiten, freut dies den Vierten: Eine Gruppe von Esperantofreunden witterte gute Chancen für einen eigenen Staat.
Zugleich wurde das geografisch langgezogene Dreieck zu einem beliebten globalen Zufluchtsort nach dem Ersten Weltkrieg: Keinerlei rechtlichen Restriktionen unterliegend gewährte die Minengesellschaft den Einwohnern geräumige Arbeiterunterkünfte, eine Schule, eine Krankenversicherung und Sparkonten mit grosszügigen Zinssätzen. Morsenet verschwand allerdings nach dem Ersten Weltkrieg durch den Versailler Vertrag wieder von der Landkarte und auch Esperanto konnte sich nie wieder irgendwo als Landessprache durchsetzen.
Und noch ein Kuriosum kannte Morsenet: Die Landeshymne des Zwergstaates wurde nach der Melodie von „O Tannenbaum…“ gesungen. In welcher Sprache ist leider nicht mehr überliefert.
Das reich und sorgfältig ausgestatte Buch zeigt jedes der 50 Länder in seinen Umrissen (einzeln im Buch ausgestanzt!) und enthält die wichtigsten Zahlen und Fakten. So kann der Leser, die Leserin Redonda oder Akhzivland, Lakotah oder Moskitia, Mayotte oder Ruthenien, aber auch bekanntere Gefilde wie Katalonien, Grönland, Tibet, Nordzypern oder Isle of Man entdecken - für Sammler schöner Bücher eine Trouvaille. Dieser Atlas ist übrigens in Malaysia hergestellt wurde, wo solches noch bezahlbar ist…
Nick Middleton, Atlas der Länder, die es nicht gibt, Verlag Quadriga, Bastei Lübbe, Köln 2016