Eine Creatio ex nihilo ist der Traum vieler Visionäre, ein Neubeginn auf grüner Wiese: die Idealität mit der Realität verbinden und die eigenen Ideen in der Architektur konkretisieren. Das können nur wenige. Zu ihnen zählt der charismatische Zuger Theologe und Pädagoge Leo Kunz (1912–1978).
Innovation in einer stabilen Schulwelt
Wir kehren kurz zurück in die Zeit des Kalten Krieges, in die bipolare Welt der 50er- und 60er-Jahre. Wandel ist wenig, die Stabilität stark. Das Gleiche gilt für die Schule: ein gefestigter, wohl geordneter Mikrokosmos – und mitten drin die Lehrerin, der Lehrer als Inkarnation fachlicher und pädagogischer Autorität. Nur selten zu hören ist die Vokabel Innovation. Vordergründig verlangt sie die Zeit nicht.
Und doch rufen die jahrlangen Konstanten nach Reformen. Bildungsinnovationen kommen vielfach aus dynamischen Privatschulen. Sie orientieren sich an neuen pädagogischen Idealen; sie suchen alternative Wege. Zu diesen Institutionen gehört beispielsweise das ehemalige „Evangelische Seminar Unterstrass“ in Zürich; dazu zählt das Zuger Lehrerseminar St. Michael. 1880 gegründet, wird es zu Beginn des Zweiten Weltkriegs geschlossen und 1958 wieder eröffnet. Spiritus Rector der Neugründung ist der theologische Reformpädagoge Leo Kunz. Der legendäre Seminardirektor weilt während der Weimarer Republik an deutschen Reformschulen. Ihre pädagogische Grundidee fasziniert und inspiriert ihn. Manches davon will er in die Tat umsetzen.
Die pädagogische Vision in der Architektur
Ideen brauchen eine Gestalt; nur so werden sie kenntlich und prägen sich ein. Genauso benötigt die neu konzipierte Lehrerbildung ein frisches Gesicht, ein andersartiges Gebäude. Davon ist Leo Kunz überzeugt. Zentrales Anliegen ist ihm eine umfassende Schülermitwirkung – konkreter Vorbote eines pädagogischen Wandels. Die imposante alte Anlage aus dem Gründerjahr 1880 passt da nicht zum neuen Konzept. Für seine visionären Grundgedanken findet er im renommierten Zuger Architektenteam Hafner & Wiederkehr zwei kongeniale Partner.
Die Anlage aus den Jahren 1959–61 wurzelt ganz in der Tradition der schweizerischen Nachkriegsmoderne, ein „architektonisch herausragender Schulhausbau“. [1] Darum steht er seit 2002 unter Denkmalschutz. Klare Formen und präzise Materialwahl sind typisch. Das Haus ist eindrückliches Beispiel für eine Architektur, die sich explizit auf eine konkrete Nutzung bezieht. Leo Hafner und Alfons Wiederkehr realisieren baulich, wovon Leo Kunz pädagogisch träumt: eine zeitgemässe Lehrerbildung, konzentriert auf das Eigentliche und Wesentliche, ohne Flucht ins pädagogische Vielerlei. Die Schule als Lernort mit einem klaren Fokus: die Kernprozesse des Lernens, räumlich realisiert im Symbol des Innenhofs. Darauf ist alles ausgerichtet.
Atmosphäre der Konzentration
Das Lernen der jungen Menschen konsequent in den Mittelpunkt stellen: Das Seminargebäude ist Abbild dieses Gedankens. Im Zentrum steht daher der Studienhof – der archimedische Punkt der intendierten Bildung. Um ihn herum sind die Klassenräume angeordnet, verbunden mit einem kreuzgangähnlichen Korridor.
Subtil ist sie gestaltet, die räumliche Folge von Eingangshalle, Atrium, Aula und Innenhof. Es ist eine Abfolge von differenzierten Innen- und Aussenraumbeziehungen. Das fördert eine Atmosphäre der Stille und der Konzentration auf das pädagogisch Entscheidende. Die grosszügige Ordnung und die klaren Linien helfen mit. Die Architektur unterstützt das Anliegen, einen identitätsstiftenden Lern- und Lebensort zu schaffen.
Zugänge zur Welt ermöglichen
Innen und Aussen zusammenführen; das will Bildung – und damit den jungen Menschen die Zugänge zur Welt ermöglichen: sprachlich-kommunikativ, mathematisch-naturwissenschaftlich, musisch-künstlerisch, historisch-philosophisch. Wie sehr diese pädagogische Idee im Bau zum Ausdruck kommt, zeigt sich an der Aula als engerem Sammelpunkt der Schulgemeinschaft. Sie ist nicht abgeschlossen, sondern nach innen und nach aussen transparent. Symbol und Auftrag zugleich: im Mikrokosmos der Schule das Leben lernen.
Das lebte der Gründungsdirektor Leo Kunz vor, das verinnerlichte sein Nachfolger Werner Hegglin. Noch heute erinnere ich mich an seine erste Lehrerkonferenz – ganz der Architektur entsprechend: gut gegliedert, gradlinig und schnörkellos, klar und konsequent. Wenige Punkte – viel Denkleistung. Und vor allem eines: konzentriert auf den Kern der Lehrerbildung, auf die menschlichen Lernprozesse und das Mitverantwortlich-Sein aller Beteiligten. Eine Bildung jenseits des Funktionierens und Belehrens, fern aller unreflektierter Modeslogans, fern jeder Techné. Eine Bildung, die auf die humane Kraft des zwischenmenschlichen Austausches und die Kraft des dialogischen Lernens baut. Achtsam aufeinander sein und aufmerksam, wahrnehmen und darüber nachdenken. Immer wieder: denken lernen, mehr fragen als reden.
Der Genius loci als pädagogischer Inspirator
Eine thematische Konferenz und ein persönliches Gespräch – und ich wusste, was dem neuen Seminardirektor pädagogisch bedeutsam war: die fachlichen Lernprozesse in den Dienst menschlicher Entfaltung stellen – orientiert an der individuellen Persönlichkeit, ausgerichtet auf den kommenden Berufsauftrag, wie es die Architektur vorzeichnete: Innen und Aussen verbinden.
Das Zusammenspiel von Schulbau und Pädagogik belebt. Darauf basierte Leo Kunz’ Idee. Wer heute mit Absolventen dieser Schule spricht, den überrascht immer wieder eines: die grosse Identifikation der Ehemaligen mit dieser Schule. Die Atmosphäre vor Ort, der sogenannte Genius Loci, habe sie geprägt, berichten sie. Und zwar nachhaltig, fügen viele bei. Architektur und Pädagogik als inspirierendes Tandem.
[1] Sabine Windlin, „Denk-Mal ist Programm“. In: Personalzeitung Kanton Zug. SA 2.7.2013, S. 2.