Ein Nachtrag drängt sich auf zum Beitrag über die Müritz und die nautischen Herausforderungen bei der Überquerung des „kleinen Meeres“ vor einer Woche – eine Art Appendix sowohl im zeitlichen als auch räumlichen Sinn.
Wie die sechste Symphonie von Beethoven, die Pastorale, kam es mir vor, dieses kleine Meer, als wir es vor einer Woche überquerten. Seine sich nur leise bewegende Oberfläche, auf der sich die Wolken spiegelten und dessen Wasser friedlich gegen den Bug unseres Schiffes plätscherte, als dieses sich behutsam seinen Weg zwischen den farbigen Markierbojen suchte, erinnerte an die sanften Töne, mit welchen Beethoven das friedliche Leben der Bauern auf dem Lande beschreibt. Doch so wie der Musikliebhaber trotz der ländlichen Sanftheit um die schlummernde Kraft der Beethoven’schen Orchestersprache weiss, spürte der Schiffer auf der Müritz die latente Kraft des Sees, welche jederzeit losschlagen kann wie der Sturm in der Pastorale.
Aber so wie es neben dem orchestralen auch den andern Beethoven gibt, denjenigen der Streichquartette zum Beispiel, welche zwar eine nicht weniger dynamische, aber doch sehr andere Sprache sprechen, so besteht die Müritz nicht nur aus jener grossen, offenen Wasserfläche, auf denen sich die Wellen zu zwei Meter hohen Bergen aufbäumen können, sondern auch aus kleinen Buchten und durch Engnisse abgetrennten Nebenseen. Dort kann man sich das Getöse bei der Boje „Müritz Mitte“ während eines Sturmes kaum vorstellen. Die meisten dieser Stellen sind für motorbetriebene Schiffe verbotene Zone oder nicht tief genug für die Solveig. Doch eine davon, ein Appendix im wörtlichen Sinn, haben wir befahren, den sogenannten Müritzarm, welcher sich von der Kleinen Müritz bei Rechlin über zehn Kilometer südwärts bis nach Buchholz erstreckt.
Auf dem Müritzarm nach Buchholz
Hier in der Nähe entspringt die Elde, jener Fluss, welcher die Müritz und die andern grossen Mecklenburger Seen in Richtung Elbe entwässert. Wären die Ufer hochaufragend und felsig, könnte man sich in einem Fjord wähnen, der sich tief ins mecklenburgische Hinterland eingefressen hat. Doch hier ist das Land flach und wirkt einsam und verloren. Die breiten Schilfgürtel, welche jeden Naturschützer, der am unteren Zürichsee ein bisschen Lebensraum für das Schilf zu schaffen versucht, vor Neid erblassen lassen müssten, bilden eine kaum überwindbare Grenze zwischen Wasser und Land.
Manchmal verengt sich der Müritzarm auf kaum mehr als hundert Meter. Ich beobachte aufmerksam das Echolot und atme auf, als an der letzten Engstelle, wo sich der See nach Westen in eine Bucht mit dem stolzen Namen „Müritzsee“ wendet, unter dem Kiel der Solveig noch ein halber Meter bleibt. Hier liegt das Dorf Buchholz.
An der grossen Steganlage, welche von einer lokalen Schiffschartergesellschaft gebaut worden ist, legen wir für die Nacht an. Hinter den grossen Eichen, welche das Ufer säumen, ragt ein dicker Kirchturm aus rotem Backstein auf, welcher durch einen hölzernen Aufbau mit schieferbedecktem Helm gekrönt ist. Die ungewöhnliche Konstruktion macht uns neugierig. Auf einem Sandweg gehen wir zum Dorf. Die alten Fachwerkhäuser scheinen alle an einer einzigen langen Strasse zu liegen.
Dort steht auch die Kirche. Man geht durch einen alten grasbewachsenen Friedhof. Die wenigen, ziemlich verwitterten Grabsteine liegen verteilt unter grossen Bäumen an die Kirchenwand gelehnt. Der Friedhof scheint nicht mehr genutzt zu werden. Die Kirche betritt man durch einen offenen Porticus mit Spitzbogen, über dem der Turm errichtet ist. Der Innenraum ist schlicht; einzig der Altaraufsatz, der aus der Zeit um 1600 stammen soll, gibt dem rechteckigen Raum mit den einfachen Holzbänken ein sakrales Gepräge. Seitlich des Altars wurde eine kleine Empore errichtet. Die einfache Holzkonstruktion und die spartanischen Bänke erinnern mich an die Kirchen in unseren Bergdörfern, ganz besonders an diejenige im bündnerischen Bergün.
Wechselvolle Geschichte
Beim Eingang liegt ein professionell gemachtes Faltblatt auf, das über die wechselvolle Geschichte des kleinen mecklenburgischen Bauerndorfes und seiner Kirche orientiert. Ihm entnehmen wir, dass Buchholz erstmals am 16. April 1273 urkundlich erwähnt worden sei und heute noch 150 Einwohner zählt. Die ansässigen Bauern hätten sich schon seit Jahrhunderten gegen die Abhängigkeit von ihren Gutsherren gewehrt und sich schliesslich nach dem Dreissigjährigen Krieg vom letzten Grundherrn, O. Ch. von Raven auf Boek, freigekauft.
Der heutige Grundriss der Kirche gehe auf das Jahr 1350 zurück, doch der auffällige Turm, laut Faltblatt der einzige dreiseitig offene Turm in der gesamten Müritzregion, sei erst im Jahre 1814 in dieser Form errichtet worden, nachdem die Kirche durch Brandstiftung am Palmsonntag 1814 zerstört worden sei.
Wie überall auf unserer Reise durch Brandenburg und Mecklenburg spürt man in den Kirchen und auf den Friedhöfen die wechselvolle lokale und globale Geschichte. Doch Hungersnöte, Feuersbrünste und Kriegsgreuel entfernter Jahrhunderte lassen sich gelassener, gleichsam mit dem Blick des Historikers, zur Kenntnis nehmen als die Vorkommnisse während des 20. Jahrhunderts, die wir zum Teil selber miterlebt haben oder von denen wir zumindest Zeugen kannten. Ich spüre diese Betroffenheit immer wieder, wenn ich mit Menschen ins Gespräch komme oder eine Chronik der Ereignisse lese, wie diejenige über Buchholz, welche im Vorraum der Kirche auf Texttafeln erzählt wird.
Ob er es will oder nicht, der Besucher wird unmittelbar zum Zeugen der guten und schlechten, der mutigen und feigen Taten der damaligen Zeitgenossen. So habe sich zum Beispiel der Pfarrer von Buchholz in den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts in einer Predigt gegen die zunehmende Judenhetze gestellt. Er sei danach bei der Partei angezeigt und 1935 seines Amtes enthoben worden. Die Geschichte habe danach, wie anderswo auch, ihren unrühmlichen Verlauf genommen.
Auch die Hoffnung auf eine grundlegende Erneuerung der Kirchgemeinde nach dem Krieg habe sich nicht erfüllt, erzählt die Chronik weiter. Wer sich um die christliche Gemeinde und den Erhalt der Kirche gekümmert hätte, sei politisch unter Druck gesetzt worden. Den Kindern dieser Familien sei beispielsweise eine höhere Ausbildung verwehrt worden.
Verschwundenes ländliches Leben
Umso erstaunlicher, ja versöhnlicher, war die Entdeckung einer kleinen Fotogalerie im hinteren Teil der Kirche, welche anhand alter Schwarzweiss-Fotografien dokumentiert, dass die Eckpfeiler des menschlichen Lebens durch all diese Wirren hindurch konstant geblieben sind: Es wurde geheiratet und gestorben, Kinder kamen zur Welt, gingen zur Schule – den Buben war der Schulweg wohl wichtiger als der Unterricht –, man bebaute sein Land an den Werktagen und ging am Sonntag in die Kirche.
Wunderbar das Bild eines Hochzeitsumzuges auf der Dorfstrasse: Man meint, die vierköpfige Dorfkappelle mit der grossen Pauke zu hören, welche dem festlich gekleideten Brautpaar vorausgeht, und spürt den heiligen Ernst der beiden kleinen Mädchen, welche die Braut begleiten; eins trägt die Schleppe, das andere ein Blumenkörbchen. Trotz aller Festlichkeiten geht gleichzeitig das normale Leben im Dorf weiter, wie das einen schweren Karren ziehende Pferd im Hintergrund deutlich macht.
Ich vermute, dass wir nicht nur das erwähnte Informationsblatt über die Kirche, sondern auch die andern Zeugnisse über Buchholz dem Förderverein Dorfkirche Buchholtz/Müritz verdanken, welcher sich für den Erhalt seiner Kirche einsetzt (siehe www.dorfkirche-buchholz.de). Doch machen wir uns nichts vor: Im Sinne der Bewahrung der Kirchenarchitektur mag dieses Vorhaben durchaus gelingen, doch wenn man durch das heutige Dorf geht, spürt man, dass unabhängig von allen politischen Episoden das eigentliche Kirchenleben, wie es in den früheren Jahrhunderten war, sich nicht wiederherstellen lassen wird.
Tempi passati, hier wie dort, im Westen wie im Osten. Es scheint, schon Theodor Fontane hätte die Kirchen resignierend eher als architektonische Geschichtsbücher denn als Stätten der Glaubensausübung gesehen. Noch einmal profitiere ich vom erwähnten Förderverein, dessen Informationsblatt mit einem Zitat aus Fontanes „Vor dem Sturm“ schliesst:
„Nur unsere Dorfkirchen stellen sich uns vielfach als die Träger unserer Geschichte dar, und die Berührung der Jahrhunderte untereinander zur Erscheinung bringend, besitzen und äussern sie den Zauber historischer Kontinuität.“