Finanziert wird Btselem, 1989 gegründet, durch Spenden, ob von staatlicher Seite (Beispiel Norwegen) oder privater, etwa George Soros’ «Open Society»-Stiftung. Durch ihre präzisen Dokumentationen von Menschenrechtsverletzungen hat sich die NGO über die Jahre einen tadellosen Ruf geschaffen, wenn auch nur im Kreis von Experten. Dieser Tage nun hat ein Report auch international ein grosses Echo gefunden. Die grossen Medien und Zeitungen von Europa bis USA haben berichtet, nur merkwürdigerweise deutsche nicht (in der Schweiz immerhin das jüdische Wochenmagazin Tachles).
Kein Staat aller Bürger
In diesem Report nämlich stellt Btselem fest, im Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer mit rund 14 Millionen Bewohnern – je zur Hälfte etwa Juden und Palästinenser – habe Israel ein System der Apartheid installiert, und das müsse man so benennen. Heute sei es nicht mehr richtig, zwischen dem Kernland und den besetzten Gebieten zu unterscheiden, wie das seit Jahrzehnten auch Menschenrechtsorganisationen und Kommentatoren tun. Vielmehr sei das gesamte Territorium als eines zu betrachten, wo Gesetze, praktische Politik und staatliche Gewaltanwendung nur noch das eine Ziel haben: Die Oberherrschaft der einen Gruppe – der Juden – über die andere – die Palästinenser – zu zementieren.
Btselem legt dabei Wert auf die Feststellung, dass Apartheid nicht allein das einstige System Südafrikas bezeichnet, sondern dass es unterschiedliche Erscheinungsformen gibt. Eine davon (genauer mehrere) hat Israel im Gebiet zwischen Jordan und Mittelmeer installiert.
Was Btselem an Fakten aufführt, ist im Grunde seit Jahren Praxis und bekannt. Doch ist 2018 etwas Wesentliches dazugekommen: Das sogenannte Grund-Gesetz, «Nation State Law», wonach Israel die nationale Heimstätte des jüdischen Volkes sei. Demnach ist Israel nicht als Staat seiner Bürger definiert – also auch der nicht-jüdischen – sondern nur als Heimstatt der Juden.
Zweistaatenlösung – nur noch eine Phrase
Als Zweites hat Regierungschef Benjamin Netanyahu offen seine Absicht bekundet, auch die israelisch besiedelten Gebiete des Westjordanlandes zu annektieren. Damit ist quasi offiziell, dass die sogenannte Zweistaatenlösung nurmehr eine Phrase ist (an der aber der neue US-Aussenminister Blinken anscheinend festhalten will), auch wenn es noch politische Hindernisse gibt, die Annektion zu vollziehen. Man muss also von einer Einstaaten-Realität sprechen, ob mit oder ohne Annektion. Politischen Beobachtern mit Realitätssinn war das seit langem klar angesichts der Siedlungsstruktur.
Denn dieses «Nation State Law» bezieht sich auch auf das Westjordanland und auf das annektierte Ostjerusalem sowieso. Selbstbestimmungsrecht gilt seither auch formal nur für Juden und hat nun quasi Verfassungsrang (obwohl Israel bis heute keine Verfassung hat, sondern nur einzelne Grund-Gesetze). Damit ist zementiert, was seit Staatsgründung Praxis ist, nämlich dass für Nichtjuden andere Gesetze, Regeln oder Bestimmungen gelten. Palästinenser unter Besatzung (Westbank, Ostjerusalem, Gaza) haben kein Recht mitzubestimmen, wer sie wie regiert und ihr Schicksal auch in der Zukunft bestimmt.
Es geht nicht nur um die eigentlichen Siedlungen und die mittlerweile hunderttausenden von Bewohnern, sondern auch um das umgebende Territorium, das ihnen willkürlich zugeschlagen wird, oder andern Boden, den zum Beispiel das Militär als «Trainingsgelände» für sich beansprucht. Auf dem restlichen Grund ist ein lebensfähiger Palästinenserstaat gar nicht mehr möglich.
In Israel selber gelten unterschiedliche Gesetze und Bestimmungen für Palästinenser schon seit 1948. Diese haben zwar das Wahlrecht, sind aber in vielerlei, auch fundamentalen Bereichen in ihren Rechten beschränkt. Dass sie bis 1966 im eigenen Land sogar noch unter Militärgesetzgebung standen, ist nur eines der vielen, wenn auch der gravierendsten Beispiele. Seit 1967 neue Gebiete besetzt oder annektiert wurden, leben Palästinenser unter vier unterschiedlichen («Rechts»-)Systemen, denen allen gemeinsam ist, dass sie Israels Oberhoheit zementieren.Das sind:
- Palästinenser in Israel selber, sie machen ca. 20 Prozent der Bevölkerung aus: Sie dürfen wählen, sind aber von nationalen Regierungsfunktionen ausgeschlossen. Sie dürfen ihre Kommunen nicht frei entwickeln (bauen, Baugrund kaufen, etwa); sie dürfen sich nicht frei niederlassen («jüdische» Kommunen haben das Recht, ihnen die Niederlassung zu verwehren). Ihr Erziehungswesen oder ihre Infrastruktur sind in einem vergleichsweise viel prekäreren Status als die für die jüdische Gemeinschaft. Ihre Armutsrate ist um ein Vielfaches höher als unter der jüdischen Bevölkerung.
- 350 000 Palästinenser in Ostjerusalem: Ihr Status ist der von «Daueraufenthaltern», nicht von Staatsbürgern. Sie können an Gemeinde-, nicht aber an nationalen Wahlen teilnehmen, sie bekommen Sozialleistungen, können sich in Israel frei bewegen und dort arbeiten. Ihr Status aber kann aber jederzeit widerrufen werden oder auslaufen.
- 2,6 Millionen Palästinenser in der Westbank, die bisher formal nicht annektiert wurde (weil so eine erhebliche Zahl von Menschen im Prinzip den Anspruch auf Gleichberechtigung hätten), doch inzwischen hat die Regierung ihre Absicht verkündet, auch unterstützt von Ex-Präsident Trump: Die Palästinenser unterstehen Militärrecht, während für die Siedler ziviles israelisches Recht gilt. Die Palästinensische Autonomiebehörde hat einige zivile Funktionen (Gesundheitswesen, Müllabfuhr, Sicherheitsdienste und dergleichen), wird aber von der Besatzungsmacht kontrolliert. Nach Israel dürfen die Palästinenser nur mit Spezialbewilligung. Ihre Bewegungsfreiheit ist erheblich eingeschränkt, viele der Verkehrswege dürfen sie nicht benutzen. Israel kontrolliert auch Wasser, Kommunikation oder Handel.
- 2 Millionen Bewohner des Gazastreifens: Israel kontrolliert (zusammen mit Ägypten) die dortigen Grenzen und somit jegliche Bewegungsfreiheit wie auch den Waren- und Finanzfluss.
Eine ganz zentrale Rechtsungleichheit ist (aber auch sie nicht neu), dass jeder mit jüdischer Abstammung (auch bei nur einem Grosselternteil) nach Israel einwandern und Staatsbürger werden darf, aber kein 1948 vertriebener Palästinenser oder seine Nachfahren. Einzige Ausnahme ist eine Heirat. Palästinenser dürfen auch nicht innerhalb dieser vier Gebiete frei umziehen, wenn sich dadurch ihr Status verbessern würde. In diesem Rahmen vollzieht Israel seit Jahren auch eine Art von ethnischer Säuberung auf dem Verwaltungsweg. Wer etwa ins Ausland zieht, darf nicht mehr zurück, oder Familienzusammenführung wird verhindert. 250’000 Palästinensern wurde so schon der Status verändert, die Rückkehr etwa zum Ort der Geburt verwehrt.
Grund und Boden vom Staat requiriert und zugeteilt
Grund und Boden werden nach Belieben in Israel selber wie auch in den besetzten Gebieten requiriert oder zugeteilt. Palästinenser bekommen fast nie Baubewilligungen, können also Kommunen nicht frei entwickeln nach demografischen Bedürfnissen. Die Menschen bauen also gezwungenermassen illegal, von Abriss und Strafe bedroht. Palästinenser in Israel haben heute Zugang zu nur noch 3 Prozent des Bodens, der fast zu 90 Prozent dem Staat gehört. Wurden bisher hunderte von jüdischen Kommunen errichtet, so keine einzige für Palästinenser. Und in jüdischen Kommunen Israels bekommen Palästinenser so gut wie keine Niederlassungsbewilligungen.
Gideon Levy, Redaktor von Haaretz und der schärfste Kritiker der israelischen Politik, wies in seinem Kommentar zu dem Report noch einmal auf die in seiner Sicht Lebenslügen all der linken Parteien und NGOs, die bisher meinten, zwischen besetzten Gebieten und Israel unterscheiden zu können. Wahlen abzuhalten allein bedeutet nicht Demokratie. Anfügen könnte man dieser Tage auch eine andere, bittere Illustration der Apartheid-These: Während alle Welt das israelische Impfprogramm rühmt, geht unter, dass davon die Palästinenser des Westjordanlandes ausgenommen sind. Sie müssen selber schauen, woher sie den Impfstoff bekommen.