Seine Liebe galt dem Nahen Osten, dem er entstammte. Er liebte dessen Menschen, nicht aber die Herrschenden und deren üble Machenschaften. Shadid verkörperte die Kardinaltugenden jedes guten Reporters: hingehen, fragen, hören, sehen, fühlen und aufschreiben.
Er starb, wie er gelebt hatte
Sie waren eine Woche in Syrien gewesen, inkognito, auf den Spuren des bewaffneten Widerstands gegen Präsident Bashar al-Assad. Schmuggler hatten sie von der Türkei aus mit Pferden ins Land geschleust, und jetzt waren sie, wieder mit Pferden, auf dem Rückweg zur Grenze: Anthony Shadid und Tyler Hicks, einer erfahrensten Fotografen der New York Times. Doch kurz vor Grenze erlitt Shadid, der auf Pferde allergisch war, einen heftigen Asthma-Anfall und brach kurze Zeit später trotz Medikamenten später tot zusammen.
Hicks versuchte vergeblich, seinen 43-jährigen Kollegen wiederzubeleben. Einige Stunden später aber gelang es ihm, den Toten unentdeckt über die durch Stacheldraht gesicherte Grenze in die Türkei zu tragen. Jill Abramson, die Chefredaktorin der New York Times, informierte noch gleichentags die Redaktion: „Anthony starb so, wie er gelebt hat – entschlossen, die Umwälzungen zu dokumentieren, die den Nahen Osten erfasst haben, und das Leiden der Menschen zu bezeugen, die zwischen der Unterdrückung der Regierung und dem Widerstand gefangen waren.“
Eine unerzählte Geschichte
Es war Shadids zweiter verdeckter Einsatz in Syrien. Das erste Mal war er im vergangenen Juli von Beirut aus mit einem Motorrad ins Nachbarland gefahren, wo ein Volksaufstand ausgebrochen war. Worauf das Regime in Damaskus, erzürnt über die ungeschminkten Depeschen des Amerikaners, Agenten aussandte, um dessen Verwandte im Libanon zu belästigen. „Ich hatte das Gefühl, dass Syrien wichtig war und dass seine Geschichte sonst nicht erzählt würde, dass das Land es wert war, Risiken einzugehen“, sagte Shadid danach im Interview mit dem amerikanischen Radiosender NPR. Anthony Shadids Frau Nada, selbst Nahost-Korrespondentin, und seine zwei jungen Kinder, Leila und Malik, sehen das heute unter Umständen anders.
Die New York Times widmete ihrem toten Korrespondenten umgehend einen Leitartikel: „Die Welt und der Journalismus sind heute viel ärmer dran, weil sie nie mehr den letzten Bericht werden lesen können, den Mr. Shadid wohl bereits im Kopf hatte.“ Der Leitartikler zitiert einen Vortrag, den Antony Shahdid einst vor Studenten der University of Wisconsin in Madison gehalten hat: „Der beste Journalismus beschäftigt sich manchmal mit Fussnoten – wenn du klein schreibst, um Grosses zu sagen.“ Shadid habe damit, so die Times, treffend seine Arbeitstechnik beschrieben: „eine Menge aussagekräftiger Details zu sammeln, um lyrisch über einfache Leute zu berichten, die einem Konflikt nicht entrinnen können“.
Anstand und Bescheidenheit
John F. Burns, Bürochef der New York Times in London und ein erfahrener Kriegsberichterstatter, charakterisiert seinen verstorbenen Kollegen wie folgt: „In der Gemeinschaft jener, die in seiner Generation über die Konflikte im Nahen Osten berichtet haben, konnte keiner Anthony das Wasser reichen, und das nicht nur der lyrischen Qualität seiner Schreibe oder der Anteilnahme wegen, die er in seine Geschichten einfliessen liess. Er war einzigartig, weil er auch unter widrigsten Umständen und in schwierigsten Zeiten immer anständig und bescheiden blieb. Wie an Ernie Pyle (der legendäre Reporter der US-Zeitungskette Scripps Howard im 2. Weltkrieg) und aus vielen der gleichen Gründe wird man sich an ihn erinnern, solange Reporter über Kriege berichten.“ Das Einzige, meint ein anderer Kollege, was einem grossen Journalisten wie Shadid fehlte, sei ein massives Ego gewesen.
Anthony Shadids letzter Artikel erschien einen Tag nach seinem Tod in Syrien. Er hatte ihn, vor der Reise nach Syrien, in Tunis geschrieben, über einen Islamisten, der aus dem Londoner Exil zurückgekehrt war, um in der Heimat beim Aufbau einer Demokratie zu helfen: „Said Ferjanis Erleuchtung kam nach einer Kindheit in Armut in einer frommen Stadt Tunesiens. Sie erfolgte, nachdem eine religiöse Renaissance eine Generation zuvor seine intellektuelle Neugier geweckt hatte, nachdem er einen Putsch geplant und ein Folterknecht seinen Rücken gebrochen hatte, und nachdem er nach Grossbritannien geflohen war, um sich anderen Islamisten anzuschliessen und Asyl zu suchen mit einem Pass, den er sich von einem Freund geborgt hatte.“ 22 Jahre später habe Ferjani erkannt, was es nun zu tun galt: „eine Demokratie aufzubauen, unter Führung von Islamisten, die ein Vorbild für die arabische Welt werden würde“.
Die Welt dekodieren
Alle Beteiligten, zitierte Shadid den Tunesier, müssten Acht geben, sich nicht von diktatorischen Instinkten leiten zu lassen, was immer auch geschehe: „Wir dürfen die Seele unserer Revolution nicht verlieren.“ Das sei am Ende die grosse Herausforderung. Seine letzte Depesche war eine Geschichte, wie Anthony Shadid während seiner über 20-jährigen Laufbahn als Nahost-Korrespondent der Nachrichtenagentur AP, des Boston Globe, der Washington Post und der New York Times viele geschrieben hatte: einfühlsam beobachtet, reich an Einzelheiten und trotz aller Details den grösseren Zusammenhang nie aus den Augen verlierend. „Nur Geschichten zählen“, riet er den Studenten in Wisconsin, nicht Meinungen, nicht Predigten, nicht Prognosen: „Glaube nie, was man dir sagt.“
Kein Wunder, trugen die aufwändigen Recherchen Anthony Shadid, der perfekt Arabisch sprach, zwei Pulitzer-Preise und weitere Ehrungen ein. Shadid sei, sagt Jon Lee Anderson, seinerseits ein begnadeter Reporter des New Yorker, so talentiert gewesen, dass man auf ihn gar nicht neidisch habe sein können. Mit Anthony zu arbeiten, berichtet ein Fotograf der New York Times, sei immer so gewesen, als sähe man den Nahen Osten zum ersten Mal: „Wenn wir durch die Strassen Bagdads fuhren, pflegte er mich eindringlich auf Bauten, auf Zeichen, auf Farben und auf Arten der Bekleidung aufmerksam zu machen. Jedes Detail hatte seine Bedeutung und seine Geschichte, die ich selbst nie erraten hätte, obwohl ich bereits seit Jahren in der Region arbeitete. Anthony dekodierte diese Welt; er verstand sie und sie war ihm auf eine Art und Weise teuer, wie ich das bei keinem anderen Journalisten auch nur in Ansätzen erfahren habe.“
Unvereinbare Vorstellungen
Peter van Agtmael, auch er ein Fotograf der Times, erinnert sich an eine Patrouille mit US-Soldaten in Bagdad. Während ein anderer Reporter des Blattes mit den Bewaffneten marschiert sei, habe sich Anthony Shadid zurückfallen lassen und mit Leuten auf der Strasse über die Präsenz der Amerikaner im Irak gesprochen: „Die unvereinbaren Vorstellungen zwischen Amerikanern und Irakern wurden so überdeutlich und verfestigten sich zu einer Geschichte, die das weltanschauliche, kulturelle und gedankliche Versagen der Besetzung symbolisierte.“ Über seine Zeit im Irak als unabhängiger, d.h. nicht „eingebetteter“ Korrespondent der Washington Post schrieb Shadid 2005 das Buch „Night Draws Near“, ein 424-seitiges Werk, das wie wohl kein zweites darlegt, weshalb die amerikanische Intervention im Irak zum Scheitern verurteilt war.
Anthony Shadid, schrieb damals ein Rezensent der Post, betrete Neuland, indem er, was dringend nötig sei, sowohl das menschliche Antlitz des irakischen Volkes zeige als auch treffend die verschiedenartigen kulturellen und historischen Kräfte analysiere, die am Ende über das politische Schicksal des Landes entscheiden würden: „In einer grauslichen, aber erhellenden Szene sehen wir, wie ein Vater von zornigen Mitbewohnern seines Dorfes gezwungen wird, seinen eigenen Sohn zu töten, der zum Informanten der Amerikaner geworden war, um Jahre brutalster Blutrache zu vermeiden. Wie immer amerikanische Politiker diesen Vorfall interpretieren mögen, er straft jene Lügen, die behaupten, der Widerstand gegen die US-Besetzung sei lediglich das Werk ‚Aussichtsloser’ oder ‚ausländischer Terroristen’“.
Mitgefühl und Hintergrundwissen
Es dürfte niemanden verwundern, wenn Anthony Shadid im kommenden April, zusammen mit Kollegen der New York Times, ein dritter Pulitzer verliehen wird. Auf jeden Fall hat ihn seine Redaktion nominiert: „Ein Kenner sowohl der politischen Geschichte als auch der Kultur der arabischen Welt, hat Shadid früh erkannt, dass zusammen mit den Despoten frühere Verhaltensweisen wie Furcht, Passivität und Hoffnungslosigkeit beseitigt worden sind. Er reicherte seine leidenschaftlichen Depeschen mit der Ausdruckskraft eines Dichters, mit tiefem Mitgefühl für seine Mitmenschen und unüberoffenem Hintergrundwissen an.“
Posthum erscheint auch Anthony Shadids letztes Buch. In „House of Stone“ erzählt er die Geschichte seiner Familie, die nach Amerika ausgewandert war, und geht zurück zu den Wurzeln im Südlibanon, zurück zum Haus aus Stein, inmitten alter Olivenbäume in Marjayoun, in dem seine Vorfahren einst lebten und das er liebevoll restauriert hat: „Im Arabischen heisst ‚bayt’ eigentlich Haus, aber es beinhaltet mehr als nur Räume und Wände. Es evoziert die Sehnsüchte bezüglich Familie und Heim. Im Nahen Osten ist ‚bayt’ heilig. Reiche fallen. Nationen stürzen. Grenzen verschieben sich. Alte Loyalitäten lösen sich auf oder verändern sich, ohne Vorwarnung. Das Heim, egal ob als Struktur oder als vertraute Umgebung, ist am Ende jene Identität, die nicht verloren geht.“ Es sollte Anthony Shadid nicht vergönnt sein, in seinem Heim auf Dauer anzukommen.
Ein Nachtrag ...
P.S. Am 22. Februar, dem Tag der Beerdigung Anthony Shadids in Beirut, sind die 56-jährige Amerikanerin Marie Colvin, Korrespondentin der Sunday Times of London, und der 28-jährige französische Fotoreporter Rémi Ochlik in der syrischen Stadt Homs getötet worden. Artilleriegranaten trafen das Haus in der Nähe eines Spitals, in dem sie Zuflucht gesucht hatten. Bei der möglicherweise gezielten Attacke starb auch der syrische Videograf Rami al-Sayed. Zwei weitere ausländische Journalisten, unter ihnen eine französische Fotografin, wurden beim Beschuss des Hauses im Quartier Baba Amr verletzt.
Die erfahrene Marie Colvin, die sich seit einer Woche in Homs aufhielt, hätte ihrer Mutter zufolge eigentlich am Tag zuvor die Stadt verlassen wollen, war aber noch geblieben, um ihre Geschichte fertig zu recherchieren. Die syrische Armee beschiesst Baba Amr seit 19 Tagen. Dabei sind laut Auskunft oppositioneller Aktivisten Hunderte von Zivilisten getötet worden. Allein am 22. Februar sollen in Homs mindestens 80 Menschen ums Leben gekommen sein.
Noch am Tag vor ihrem Tod, als Bekannte sie bereits in Sicherheit wähnten, hat Marie Colvin auf Facebook einem Freund Folgendes mitgeteilt: „Ich glaube, dass die Berichte von meinem Überleben unter Umständen verfrüht sind. Die Situation in Baba Amr macht mich krank und ich kann nicht verstehen, wie die Welt zusehen kann - und ich sollte inzwischen abgehärtet sein (Colvin hatte während über 30 Jahren als Kriegsberichterstatterin gearbeitet). Habe heute zugesehen, wie ein kleiner Junge gestorben ist. Granatssplitter, Ärzte konnten nichts mehr machen. Sein Bäuchlein hob und senkte sich, bis es sich nicht mehr bewegte. Fühle mich hilflos. Und mir ist kalt! Werde versuchen, die Informationen heraus zu bringen.“
Vor zwei Jahren, anlässlich einer Feier zu Ehren getöteter Kollegen in der St. Bride’s Church in London, hatte Marie Colvin in einer Rede die Frage gestellt, ob es sich lohne, für eine Geschichte das Leben zu riskieren: „Was ist Mut, und was ist Übermut? Kriegsberichterstatter nehmen grosse Risiken auf sich und haben schwierige Entscheide zu treffen. Manchmal bezahlen sie den höchsten Preis - mit ihrem Leben.“