Bei der Vorbereitung zur Mitgliederversammlung des Schweizerischen Roten Kreuzes des Kantons Zürich wollte ich – wie ich das jeder Jahre tue – eine emotionale «Präsidialadresse» schreiben, welche das Wirken von Rotkreuz-Gründer Henry Dunant beschreiben sollte, um an die Umständen zu erinnern, unter welchen die Rotkreuzbewegung entstanden ist. Doch es kam anders: bei der Recherche nach interessanten Fakten über Henry Dunant stiess ich auf überraschende Informationen über eine Frau aus dem 19. Jahrhundert, eine Frau, welche weitgehend unbekannt geblieben ist, obwohl das Rote Kreuz ohne sie vielleicht gar nie entstanden wäre. Die Rede ist von Anne-Antoinette.
Anne-Antoinette bleibt in den gängigen Geschichtsbüchern unerwähnt und wer das Internet nach Informationen über die aussergewöhnliche Frau durchforscht, sucht meist vergebens. Das Bild, welches in wenigen Dokumenten von Anne-Antoinette gezeichnet wird, spricht von einer kleinen, graziösen Frau mit schwarzen Augen, oftmals einsam, kränklich und von nervlichen Störungen geplagt. Und was natürlich nicht unerwähnt bleibt: Sie war Mutter von fünf Kindern.
Anne-Antoinette war eine Frau aristokratischen Standes, die dennoch bescheiden blieb. Mehr noch: Die ausserordentlich faszinierende Person wurde in ihrem Umfeld rasch wahrgenommen als eine Frau einer mildtätigen Gesinnung und mit einer ausserordentlichen Liebe und Sorge zu Menschen in Not. Obwohl dies damals unüblich war, gestattete Anne-Antoinette den Kindern des benachbarten Waisenhauses, ihren Garten zu benutzen, um sich dort unter den Büschen zu erholen. Waisenkinder mussten zu jener Zeit lieblos und mit mangelnder Ernährung durchs Leben gehen, nicht so aber die Waisenkinder in der Nachbarschaft von Anne-Antoinette.
Doch dabei blieb es mit dem Engagement von Anne-Antoinette keineswegs: Absolut ungewohnt für jene Zeit, ging die sie mit ihren Kindern zu Besuchen in Armenvierteln, wo sie Kranke aufsuchte und Arme unterstützte. Sie besuchte Menschen in Wohnungen, die eher Ställen als Wohnungen glichen, sie ging zu Menschen, die nichts ihr Eigen nannten und sie besuchte – zusammen mit ihren eigenen Kindern – Menschen, die am Rande der Gesellschaft vereinsamt und unglücklich waren.
Aber auch dabei blieb es nicht: Im Jahr 1836 absolvierte Anne-Antoinette mit ihrer Familie eine Frankreichreise, wo sie unter anderem ein Gefängnis besuchte. Wer sich darunter ein heutiges Schweizer Gefängnis mit Zellen und genügend Essen vorstellt, liegt falsch: Das Gefängnis war ein Ort, an welchem Sträflinge in Ketten gelegt brutal misshandelt wurden. Es war ein aus heutiger Sicht empörender Umgang, den man damals mit den Häftlingen pflegte.
Obwohl Anne-Antoinette eine körperlich zerbrechliche Frau war – sie war oftmals bettlägerig – hatte Anne einen starken Charakter. Und dieser Charakter, die Stärke dieser Frau, die Menschlichkeit, das Mitgefühl, ihr Vorbildcharakter und ihre Standhaftigkeit bildeten einen Grundstein, einen Eckstein, in der Geschichte der humanitären Bewegung weltweit, denn Anne-Antoinette hiess mit vollem Namen Anne-Antoinette Dunant, geborene Colladon, und sie war die Mutter von Henry Dunant, dem Gründer des Roten Kreuzes.
Die Geschichte der Menschlichkeit, die Henry Dunant mit dem Roten Kreuz schrieb, basiert auf dem Eckstein seiner Mutter:
Seine Mutter war es, die Henrys Blick schulte gegenüber Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit. Seine Mutter war es, die Henrys Empörung gegenüber Unmenschlichkeit schürte. Seine Mutter war es, die in Henry den lebenslangen Wunsch weckte, leidenden Mitmenschen beizustehen.
Es war Anne-Antoinette Dunant, die den Grundstein legte für die grösste Freiwilligenorganisation Welt weit, alleine in der Schweiz sind es 53'000 Freiwillige, die unter der Flagge des Roten Kreuzes tätig sind. Anne-Antoinette Dunant legte den Grundstein zu einer nachhaltigen, weltumfassenden humanitären Organisation und gehört somit zu den Heldinnen in der Geschichte des Roten Kreuzes - dem Zeitgeist entsprechend unbekannt und ungewürdigt.
Und es ist eine bittere Episode der Geschichte – oder Ironie des Schicksals- , dass sich Henry Dunant - aus Furcht vor Strafverfolgung wegen «betrügerischem Konkurses» - nicht einmal zur Beerdigung seiner Mutter in seine Heimatstadt Genf zurück traute.
Quelle: Frauengestalten um Henry Dunant, Hans Ammann, Henry-Dunant-Museum Heiden, 2000