Täuscht der Eindruck? Oder ist es tatsächlich so, dass unser Parlament in den letzten Jahren etwas gar willkürlich und salopp mit der Verfassung umspringt? Bei der Umsetzung der Zweitwohnungsinitiative wurden ziemlich viele Stimmen laut, die meinten, der Gesetzgeber habe den Verfassungstext allzu freizügig (zugunsten der Eigentümer und Bergkantone) ausgelegt. Und als sich das Parlament daran machte, das Ausführungsgesetz zur Masseneinwanderungsinitiative zu redigieren, steckte am Ende nicht mehr allzu viel vom Initiativtext im Gesetz.
Dieser „Verfassungsbruch“, den die wütende SVP-Fraktion im Nationalratssaal mit Protesttafeln anprangerte, bewog kurioserweise einen SP-Mann, das Referendum zu ergreifen Nicht, weil er dagegen war, sondern weil er fand, dem sich ziemlich weit von den neuen Verfassungsregeln entfernten Gesetz sollte mit einer Volksmehrheit gewissermassen eine Legitimationsspritze injiziert werden. Sein Komitee brachte die nötige Unterschriftenzahl allerdings nicht zusammen.
Der schlanke Weg zum Ziel
Auch im Ständerat stand anlässlich der Ehedebatte die Verfassungsbasis im Brennpunkt. Für Sozialdemokraten und Freisinnige war der Fall klar: Der bestehende BV-Artikel 16 („Das Recht auf Ehe und Familie ist gewährleistet“) genügt vollends, um darauf die „Ehe für alle“ abzustützen. In der Leichtigkeit, mit der etwa die Herren Rechsteiner (SP), Jositsch (SP) oder Caroni (FDP) die Entbehrlichkeit einer präzisierenden Verfassungsänderung begründeten, spiegelt sich einerseits die Angst vor der Mühseligkeit, den traditionellen Revisionsweg über die Hürden von Volks- und Ständemehr einzuschlagen – eine durchaus berechtigte Angst nach dem Ständemehr, das bei der KVI-Abstimmung am letzten Wochenende das erzielte Volksmehr ins Leere laufen liess. Andrerseits zeigt sich ein markanter Stilwandel gegenüber früher, als die Parlamentarier die Verfassungsmässigkeit jedes Rechtserlasses skrupulös prüften.
Springen wir für einen Vergleich weit zurück, ins Jahr 1951, als es um ein ähnlich gelagertes Problem ging, nicht inhaltlich, aber verfahrensmässig. Im Nationalrat sass damals Peter von Roten, Mitglied der katholisch-konservativen Fraktion. Der Walliser und Ehemann von Iris von Roten, die 1958 mit ihrem Buch „Frauen im Laufgitter“ für emotionale Ausbrüche sorgen sollte, war weniger ein KK-Vertreter als vielmehr ein origineller Nonkonformist. Von Roten forderte den Bundesrat damals per Motion auf, das Bundesgesetz betreffend Volksabstimmungen so zu ändern, „dass die politischen Rechte auf die Frauen ausgedehnt werden“. Ihm schwebte vor, das Frauenstimmrecht auf die schlanke Art einzuführen, was, wie er meinte, „der Natur dieser Frage adäquater sei als der verfassungsmässige Weg“.
Von Rotens Vorstoss führte in beiden Kammern zu epischen Diskussionen. Wie diese Woche im Ständerat meldeten sich damals sowohl auf SP- wie auf FDP-Seite die prominentesten Juristen und Befürworter des Frauenstimmrechts zu Wort, und dies mit ausserordentlich tiefschürfenden, die Sachlage gründlich auslotenden Voten. Aber so vehement wie sie das Frauenstimmrecht als solches verfochten, so vehement lehnten sie den schlanken Weg zum Ziel ab. Obwohl der Einbezug der Frauen in die politischen Entscheide schon damals ein geradezu uraltes Postulat der Linken war, hielt der St. Galler SP-Nationalrat (und spätere Bundesrichter) Harald Huber als Fraktionssprecher gar nichts von textlichen Uminterpretationen, warm unterstützt vom „starken Mann“ der SP, Walther Bringolf.
Auch was den Respekt vor dem Willen des Verfassungsgebers betrifft, könnten die Unterschiede zwischen den SP-Leuten von 1951 und ihren Parteikollegen von 2020 kaum grösser sein; während für Huber 1951 dieser Wille geradezu sakrosant war, wischte ihn der Zürcher Ständerat Daniel Jositsch mit den Worten beiseite: „Was 1999 (Erlass der total revidierten Verfassung) gedacht wurde, spielt keine Rolle mehr.“ Der freisinnige Andrea Caroni bemüssigte sich ebenfalls nicht zu ergründen, ob der Verfassungsgeber von 1999 mit dem erwähnten Artikel 14 auch die „Ehe für alle“ gemeint haben könnte (was laut den Materialien offenbar nicht der Fall ist). Um der Frage die Brisanz zu nehmen, stufte Caroni die anstehende Reform zu einer simplen „Pinselrenovation“ herunter – eine etwas gewagte Formulierung, wenn man bedenkt, dass die Mann/Frau-Ehe zu den ältesten Organisationsformen unter Menschen gehört.
Das Wehen des Zeitgeists
Die etwas burschikosen und zu Oberflächlichkeit neigenden Anmerkungen der heutigen „Verfasssungspolitiker“ können den Analysen ihrer Altvordern das Wasser eindeutig nicht reichen. Gäbe es in unserem Land die Normenkontrolle durch ein Verfassungsgericht, hätte sich das Parlament der Mühsal einer Verfassungsänderung kaum so leicht entledigen können. Aber vielleicht hat die NZZ ja recht, wenn sie kommentierte, man müsse in dieser Frage auch nicht päpstlicher sein als der Papst.
Nicht zu übersehen ist allerdings, dass die Art der rechtlichen Verankerung der „ Ehe für alle“ auch ein Kind des Zeitgeists ist. Der Zeitgeist aber ist kein stabiles Geschöpf. So gewogen heute das Volk gemäss Umfragen der „Ehe für alle“ ist, so rasch kann diese Haltung wieder kippen. Ähnlich dem Antisemitismus ist Homophobie in vielen Zeitgenossen tief verankert; es braucht zuweilen wenig, dass Häme oder Hass gegenüber Schwulen und Lesben offen ausbrechen. Auch in der Schweiz, die sich als Ort der Toleranz sieht. Und ein Blick in manche Länder der EU, die eigentlich eine humane und moderne Wertegemeinschaft sein möchte, zeigt eher unheilvolle Entwicklungen.
Was nun, wenn der Wind eines Tages dreht und Ideologen der Reaktion, der „konservativen Revolution“ (Blochers Anliegen) oder der Identitären, sich anschicken, die neue Gesetzesnorm wegzublasen – wie sie es 2007 mit der Antirassismus-Strafnorm (glücklicherweise erfolglos) versucht hatten? Wäre die „Ehe für alle“ explizit, unmissverständlich und nicht allein durch Auslegung in der Verfassung verankert, hätte sie jedenfalls eine solidere Basis. Aber eben, dieser Weg wäre unbestreitbar der schwierigere gewesen.
(Der Autor ist Vater eines Sohnes, der in eingetragener Partnerschaft mit seinem Freund lebt.)