Die beste Art, JFKs zu gedenken, wäre wohl, stumm an seinem Grabmal auf dem Soldatenfriedhof in Arlington (Virginia) zu stehen und den Blick über das Meer schlichter, weisser Grabsteine auf dem hügeligen Gelände schweifen zu lassen. «John Fitzgerald Kennedy – 1917-1963» steht nüchtern auf einer Metallplatte eingraviert, die zwischen ebenen Steinen eingelassen ist. Nicht mehr, nicht weniger. In Arlington ruhen, Reihe an Reihe an Reihe, alle jene, die im Dienst der Nation gefallen sind, unabhängig von Herkunft und Rang.
Seit dem 23. Mai 1994 ruht neben dem Präsidenten First Lady Jacqueline Kennedy Onassis; auch ihr Name steht auf einer Metallplatte. Neben John F. und Jacqueline Kennedy liegen zwei ihrer toten Kinder: Patrick, der 1963, früh geboren, 15 Wochen vor seinem Vater starb, und eine namenlose Tochter, die 1956 tot zur Welt kam. Einzig Tochter Caroline lebt noch; die 56-Jährige ist neuerdings Botschafterin der USA in Japan.
Ewige Flamme und uferloses Gedenken
Hinter den Grabplatten brennt, in der Mitte eines steinernen Rondells, die Ewige Flamme, deren Installation, inspiriert durch das Pendant am Grabmal des Unbekannten Soldaten in Paris, von Jacqueline Kennedy angeregt worden war. Nach Reparaturen ist das von Gas genährte Feuer am 29. Oktober, rechtzeitig zum 50. Jahrestag des Mordes in Dallas, an seinen angestammten Platz in Arlington zurückgekehrt.
Das Ewige Licht ist aber, wie Behörden versichern, während der Flickarbeiten nie erloschen, so wenig wie die Faszination für Amerikas 35. Präsidenten, den jungen, feschen König von Camelot, dessen Regentschaft, wie Biograf Arthur M. Schlesinger Jr. titelte, lediglich «Eintausend Tage» dauerte. Es ist eine Faszination, die sich derzeit in einer Flut von Artikeln, Büchern, Dokumentarfilmen, Fernseh- und Radiosendungen, Ausstellungen und Gedenkanlässen niederschlägt, die alle zu lesen, zu sehen, zu hören, zu besuchen und zu verfolgen ein Ding der Unmöglichkeit ist. Seit 1963 sind einer Schätzung der «New York Times» zufolge rund 40‘000 Bücher zum Thema Kennedy erschienen.
Hank Stuever, ein Mitarbeiter der «Washington Post», hat «während Stunden und Stunden» zumindest versucht, das Angebot aktueller amerikanischer Fernsehsendungen zu sichten: «Je mehr ich mir anschaue, desto weniger informiert oder unterhalten bin ich.» Trotzdem, räumt er ein, sei er gelegentlich gerührt gewesen: «Die Bläue des Himmels an jenem Tag bricht einem irgendwie für immer das Herz.»
Verlorene Unschuld
Am 22. November 1963 war der Himmel über Dallas so blau wie jener am 11. September 2001 über New York und Washington, als 19 arabische Terroristen aus heiterem Himmel den Mythos von der Unverwundbarkeit des amerikanischen Festlandes zerstörten. Im Süden Manhattans fielen die Türme, und in DC brannte eine Wand des Pentagons. In Dallas, heisst es heute, hätten die USA ihre Unschuld verloren nach einer Nachkriegszeit, die der Nation einen nie gekannten Aufschwung beschert hatte: den Bau der Interstate Highways, die Ausdehnung der Suburbs, die Blüte der Produktionsindustrie und Wohlstand für (fast) alle.
Die 50er-Jahre waren, zumindest nach aussen, eine heile Welt gewesen, die Schatten, die in den 60ern länger werden sollten, noch kaum sichtbar: Morde an Robert F. Kennedy und Martin Luther King, Rassenunruhen, Diskriminierung der Frauen, Studentenproteste, Woodstock, Vietnam. Der 22. November 1963 sei «ein schlechter Tag zum Sterben» gewesen, schreibt Christopher Buckley in der «New York Times». Am selben Tag starben Aldous Huxley, der Autor des dystopischen Romans «Schöne neue Welt», und C.S. Lewis, der Verfasser der Kinderbuchserie «Die Chroniken von Narnia».
Buckley listet Meilensteine des Jahres 1963 auf: den Selbstmord der Dichterin Sylvia Plath, den Untergang des U-Bootes «U.S.S. Thresher» vor Cape Cod mit 129 Mann an Bord, den Mord an Bürgerrechtler Medgar Evers in Jackson (Missouri), den Tod von Papst Johannes XXIII., den von JFK abgesegneten Putsch gegen den südvietnamesischen Präsidenten Ngo Dinh Diem sowie schliesslich die Vorstellung eines neuen Medikamentes durch die Firma Roche, das ungleich stärker war als frühere Tabletten: «Es hiess Valium und kam vielleicht gerade rechtzeitig.»
Ikonische Gestalt JFK
Schon vor seiner Ermordung sei John F. Kennedy für viele Amerikaner eine ikonische Figur gewesen, schreibt der britische Historiker Mark White, Autor mehrerer Bücher über JFK: «Jung, attraktiv und charismatisch, versprach er Amerika eine bessere Zukunft. Es schien, als hätte er in den zwei Jahren und zehn Monaten im Weissen Haus so viel erreicht: die De-Eskalation in Berlin und Kuba von Krisen des Kalten Krieges, die Festschreibung der Bürgerrechte als nationales Ziel und die Gründung des Peace Corps.»
Umfragen zufolge nennen Amerikaner John F. Kennedy regelmässig einen ihrer grössten Präsidenten, auf einer Stufe mit Abraham Lincoln und Franklin D. Roosevelt. Dagegen sehen ihn nicht wenige Historiker lediglich als «über dem Durchschnitt», noch hinter Harry Truman. Der Grund: Es sei Kennedy seinerzeit nicht gelungen, den Kongress von seinen grossen Vorhaben bezüglich Bürgerrechte, Bildung oder Krankenkassen für Ältere zu überzeugen.
Das gelang erst seinem Nachfolger Lyndon B. Johnson, der noch am 22. November 1963, nur Stunden nach den tödlichen Schüssen auf der Dealey Plaza, in der Kabine des Präsidentenflugzeuges «Air Force One» den Amtseid ablegte – im Beisein von Jacqueline Kennedy, deren rosafarbenes Wollkleid noch mit Blutspritzern befleckt war. Johnson schwor auf dem Love Field in Dallas nicht auf eine Bibel, sondern, wie sich später herausstellte, auf ein ledergebundenes katholisches Missale, das ein Mitarbeiter JFKs in der Eile mit einer Bibel verwechselt hatte.
Neuer präsidialer Stil
Ähnlich wie Mark White argumentiert der britische Historiker Simon Schama, die ungebrochene Faszination für John F. Kennedy beruhe ausser auf seinem tragischen Ende wesentlich auf dem Image, das der Präsident für sich kreiert hatte: «Er war ein junger Anführer, der das politische Establishment alt aussehen liess.» So trug JFK im Wahlkampf zum Beispiel nur selten Hüte, ein Umstand, der Amerikas Hutmacher in Panik versetzte und sie dem Kandidaten bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen Fedora oder Trilby aufdrängen liess.
Alles, was John F. Kennedy betraf, sei darauf ausgerichtet gewesen, den Eindruck von spielerischer Leichtigkeit trotz der Bürde des Amtes zu erwecken, sagt Schama: «das Badevergnügen in Cape Cod, das Herumtollen des Töchterchens im Oval Office, der trockene Witz, der bei ihm so angeboren schien wie der Drang nach amourösen Abenteuern.» Dagegen, so der Historiker, seien JFKs akute Schmerzen, ständige medikamentöse Behandlungen, Spitalbesuche, Darmkrämpfe und Nebennierenrindeninsuffizienz niemandem bekannt gewesen. Es waren die Spätfolgen schwerer Verletzungen im 2. Weltkrieg, nachdem ein japanischer Zerstörer im Pazifik Kennedys Torpedoboot gerammt hatte.
Kein Wunder, folgert Simon Schama, hätten alle Menschen JFK geliebt, seine Lockerheit, seine Sportlichkeit, seinen Glamour: «Natürlich hat uns seine Ermordung alle persönlich getroffen und uns erzürnt ob des Verlustes eines lebensfrohen Geistes; ein beträchtlicher Teil unserer Zukunft weggeblasen in jenem Wagenkonvoi in Dallas.» Norman Mailer, erinnert er, habe damals für alle gesprochen, als er sagte: «Eine Zeitlang fühlte es sich an, als wäre das Land unser. Jetzt gehört es wieder ihnen.»
Verschwörungstheorien
Amerika gehört wieder ihnen. Das suggeriert finstere Mächte, tönt nach Verschwörung. Zwar ist die Warren Commission, deren Auftrag es was, die Ermordung John F. Kennedy s zu untersuchen, im September 1964 in einem 889-seitigen Bericht zum Schluss gekommen, Lee Harvey Oswald, der frühere Marineinfanterist und Marxist, habe in Dallas allein gehandelt, auf eigene Initiative hin und ohne Komplizen. Doch das hindert eine veritable Industrie von Verschwörungstheoretikern nicht daran, das Gegenteil zu behaupten.
Die Hauptverdächtigen: Fidel Castro, Exilkubaner, Mafiosi, der «militärisch-industrielle Komplex», Lyndon Johnson, die CIA, Agenten des KGB oder des Mossad, Abgesandte Ausserirdischer oder Baseball-Star Joe DiMaggio (einst mit Marilyn Monroe, einer angeblichen Geliebten Kennedys, verheiratet). Jesse Ventura, der frühere Catcher und Ex-Gouverneur von Minnesota, hat ein Buch geschrieben, das «63 Gründe» auflistet, die für eine Verschwörung in Dallas sprechen. Einige der Verschwörungstheoretiker seien ausgewiesene Forscher und Studenten, sagt BBC-Dokumentarfilmer Anthony Summers: «Und einige sind total bescheuert und glauben, der Mord sei per Katapult vom Mars aus ferngesteuert worden.»
Noch heute glauben sieben von zehn Amerikanern, John F. Kennedy sei 1963 einer Verschwörung zum Opfer gefallen. Lediglich ein Viertel aller Befragten ist überzeugt, Lee Harvey Oswald habe allein gehandelt. 37 Prozent der Antwortenden geben an, sie stützten ihr Wissen auf Geschichts- und Sachbücher, neun Prozent nennen Filme oder fiktive Fernsehsendungen als Quelle – nicht zuletzt Olivers Stones «JFK».
Der Streifen schildert, wie 1967 ein Distriktanwalt in New Orleans als einziger Vertreter der amerikanischen Justiz einen lokalen Geschäftsmann der Verschwörung des Mordes an. Kennedy anklagt. Die These des Regisseurs: Amerikas «militärisch-industrieller Komplex» habe den Präsidenten umbringen lassen, um den Krieg in Vietnam zu verlängern.
Öffnung geheimer Akten 2017
Endgültige Klarheit über den Mord an JFK wird es erst geben, wenn und falls die Central Intelligence Agency (CIA) jene laut seriösen Schätzungen 1171 spezifischen Dokumente zum 22. November 1963 der Öffentlichkeit zugänglich macht, die heute noch geheim sind. Die Unterlagen sollen einem Gesetz von 1992 zufolge in vier Jahren enthüllt werden, wobei der Präsident auf Antrag des Geheimdienstes beschliessen kann, sie weiterhin unter Verschluss zu halten. Andere Quellen in den USA sprechen von über einer Million vertraulicher CIA-Dokumente, die den Mord in Dallas betreffen sollen.
Eines der interessanteren Bücher aus der Flut von Publikationen zum 50. Jahrestag des Attentats ist «Falls Kennedy gelebt hätte» von TV-Kommentator Jeff Greenfield. Der Autor postuliert, der Präsident hätte es in der verbleibenden ersten und in einer zweiten Amtszeit ab 1965 nicht leicht gehabt, da sich Amerikas aussenpolitisches Establishment einschliesslich Mitglieder seiner Regierung gegen die Strategie einer Annäherung an die Sowjetunion gestellt hätte. Auch hätten es Amerikas Falken nicht goutiert, falls sich JFK einer Ausweitung des Krieges in Südostasien widersetzt hätte. Innenpolitisch, so Greenfield, dürften Rassenunruhen, Studentenproteste und Frauengeschichten dem Präsidenten das Leben schwer gemacht haben.
Feindseligkeit gegen JFK
Hätte John F. Kennedy gelebt, sein nächster Stopp an jenem Freitag im November wäre Austin gewesen. Sein Empfang in der Hauptstadt von Texas wäre wohl wärmer ausgefallen als der zuvor in Dallas, der «City of Hate». Für viele der konservativen Bewohner von «Big D» war JFK ein Staatsfeind. Lokale Geschäftsleute verteilten aus Anlass des Präsidentenbesuches Pamphlete mit einem verschwommenen Bild Kennedys unter dem Titel «Gesucht wegen Landesverrats» und liessen am Morgen des 22. November in der «Dalls Morning News» eine schwarz umrandete Anzeige einrücken, die wie eine Todesanzeige aussah: »Welcome Mr. Kennedy».
Nicht wenige Amerikaner nannten Dallas danach «die Stadt, die Kennedy tötete» – ein Fluch, den die Metropole, die inzwischen 6,7 Millionen Einwohner zählt, nur schwer wieder losgeworden ist. Das Schulbuch-Depot des Staates Texas, von dessen sechster Etage aus Lee Harvey Oswald um 12.30 Uhr die tödlichen Schüsse auf JFK abgab, ist seit 1989 ein Museum. Es hofft dieses Jahr auf 350‘000 Besucher. Das siebenstöckige Gebäude hätte erst abgerissen werden sollen.
Das Dallas Symphony Orchestra hat unter dem Titel «Die Welt ist heute ganz anders» eine Komposition in Auftrag gegeben, die vom 21. bis 24. November im John F. Kennedy Center in Washington DC aufgeführt wird, neben Darius Milhauds «Ermordung eines grossen Staatschefs», das unmittelbar nach dem Mord in Dallas entstand. Conrad Tao, der chinesisch-stämmige Komponist des neuen Stücks, ist 19 Jahre alt.
Nach JFK die Beatles
Und was hätte John F. Kennedy am Nachmittag jenes Tages gesagt, an dem Amerika seine Unschuld verlor und in tiefer Trauer verharrte, bis dann elf Wochen später, am 7. Februar 1964, die Beatles mit Pan Am Flight 101 auf dem JFK-Airport in New York landeten, wo Tausende von Fans sie enthusiastisch begrüssten. Zumindest Amerikas Jugend hatte neue Idole und einen neuen Hit dazu, der sich in weniger als drei Wochen eineinhalb Millionen Mal verkaufte: «I Want to Hold Your Hand».
JFK hätte am 22. November 1963 in Austin laut vorbereitetem Redetext Folgendes gesagt: «Dieses Land bewegt sich und darf nicht still stehen. Denn dies ist eine Zeit, die Mut erfordert und sich Herausforderungen stellt. Weder Konformität noch Selbstzufriedenheit werden genügen.» Es hat nicht sollen sein. Über Camelot waren dunkle Wolken aufgezogen, und in Dallas brach, wie der lokale «Times Herald» titelte, «die dunkle Nacht der Seele» an, erhellt nur vom Ewigen Licht auf John F. Kennedy s Grab.
Quellen: «New York Times»; «Washington Post”, »Los Angeles Times”; The Daily Beast”; »The Guardian”; »The Independent”; »Financial Times”