Die unterschiedlichen Feuereinstellungen, Waffenruhen, oder Regime der Ruhe, die in Syrien immer erneut proklamiert werden, ohne anzudauern, haben zu verschärften Spannungen zwischen den Russen und den Amerikanern geführt. Diese Waffenstillstände waren ursprünglich im Februar zwischen den beiden Mächten ausgehandelt worden. Sie sollten eine erste Vorstufe für Verhandlungen bilden. Doch sie waren immer ungewiss, weil keine wirkliche Übereinkunft darüber bestand, welche Kampfgruppen in Syrien von der Waffenruhe ausgenommen sein würden und welche nicht.
Klar war einzig, der IS und die Nusra-Front seien ausgenommen und daher weiter zu bekämpfen. Unklarheit entstand, weil die Nusra-Front bedeutende islamistische Kampfgruppen als Freunde und Verbündete hat. Sie streben wie Nusra einen islamischen Staat Syrien an, stehen aber nicht unter der Führung des Nusra-Chefs, Abu Muhammed al-Golani. Diese Gruppierungen geniessen saudische Unterstützung. Sie haben sich verhandlungsbereit erklärt und waren in den Genfer Gesprächen präsent, die allerdings bis heute zu keinen Resultaten geführt haben.
Nusra im Zentrum der Zweideutigkeit
Da IS und Nusra ausserhalb des Waffenstillstandes stehen, kämpfen ihre Anhänger weiter an den unterschiedlichen Fronten in Syrien: im Norden, rund um Damaskus, im Süden und an der jordanischen Grenze. Sie haben sogar immer wieder versucht, Offensiven zu starten. Guerrillakämpfer kommen ohne Offensiven nicht aus. Ihre Taktik beruht auf dem Überraschungsmoment. Dieses kann nur zur Geltung gebracht werden, indem man auf kleinerer oder auf grösserer Front offensiv vorgeht. Doch wenn es zu solchen Offensiven kam, schlugen die Russen mit ihren Flugzeugen, die Asad-Armee mit den ihrigen und mit ihren Bodentruppen zurück, egal ob sie sich nun mit Nusra oder mit Nusra-Verbündeten im Gefecht befanden.
Im Süden, an der Grenzlinie zu den Golanhöhen, gibt es vereinzelte Gruppen, die zum IS halten. Ob es sich um heimliche oder offene IS-Anhänger handelt, ist unklar. Jedenfalls werden sie von Rivalenmilizen bekämpft, von denen einige von Jordanien aus mit Hilfe der USA bewaffnet und gesteuert werden. Solche Milizen sind ebenfalls Ziele der russischen Kampfflugzeuge – was die Amerikaner als einen klaren Bruch der Stillhalteabkommen durch die Russen einstufen.
Fassbomben auf Zivilisten
Die Asad-Regierung geht ihrerseits mit den Fassbomben gegen die Zivilbevölkerung in Ost-Aleppo vor. Dort gibt es Einheiten der Nusra-Front, solche die mit ihr zusammen agieren und auch andere, die zu den Überresten der heute geschwächten FSA (Freien Syrischen Armee) gehören. Die Fassbomben treffen alle unterschiedslos, besonders auch die in Ost-Aleppo verbliebenen Zivilisten. Sie werden auf immer noch 50’000 Menschen geschätzt, und sie sind die Hauptopfer der völlig ungezielten Bombenangriffe. Wenn die Amerikaner sich über dieses Vorgehen in der gemischten Waffenruhekommission beklagen, wird ihnen die Antwort erteilt, auch die Bewohner von West-Aleppo würden aus Ost-Aleppo beschossen. Was offenbar zutrifft.
Gesamtresultat ist, dass der Waffenstillstand von den Russen und manchmal auch von der Damaskus-Regierung eingehalten wird, wo es ihnen passt, aber gebrochen, wo sie sich einen Vorteil zu erkämpfen hoffen, oder wo sie in der Tat von Nusra und deren Verbündeten angegriffen werden.
Die Amerikaner sehen sich überspielt. Sie reagieren zunächst verbal. Aussenminister Kerry hat am vergangenen Mittwoch in Oslo auf einem dortigen Forum zur Konfliktlösung erklärt: „Russland muss verstehen, dass unsere Geduld nicht unbegrenzt ist. Die USA kann nicht als ein Instrument benützt werden, das einen sogenannten Waffenstillstand durchzuführen erlaubt, während eine der Hauptparteien versucht, den ganzen Prozess zu zerstören. (Gemeint ist damit wohl der Friedensprozess in Genf). Wir werden nicht zulassen, dass das weitergeht!“ Doch Kerry sagte nicht, was getan werden könnte, um zu verhindern, dass die Sache so weitergehe.
US-Diplomaten kritisieren die eigene Regierung
51 im Dienst stehende amerikanische Diplomaten, darunter viele Botschafter, haben sich gemeinsam zum Wort gemeldet, um die Syrienpolitik ihres Landes zu kritisieren. Sie benützten einen für diesen Zweck vorgesehenen „Dissidenz-Kanal“, der ihnen erlaubt, ihre von der Regierungspolitik abweichende Einstellung zu äussern, obwohl sie von der Regierung angestellt sind. Sie schlugen vor, energischer gegen die Asad-Regierung einzugreifen, mit „wohlüberlegten Luftangriffen und Distanzierungen“.
Das amerikanische Aussenministerium hat bestätigt, dass diese Meinungsäusserungen eingegangen seien. Sie würden studiert, erklärte ein Sprecher. Doch es gilt als wenig wahrscheinlich, dass Obama sich entschliessen könnte, nun noch in seinem letzten Halbjahr von seiner bisherigen Politik abzuweichen und den gefährlichen Schritt zu wagen, gegen den Diktator vorzugehen, in dessen Land sich russische Kampfflugzeuge und Truppen befinden, die ausgesandt wurden, um ihn an der Macht zu halten.
Noch ein „Waffenstillstand“
Die russische Diplomatie hat ihrerseits auf die amerikanischen Vorwürfe reagiert, indem sie einmal mehr einen kurzfristigen Waffenstillstand in Aleppo erklärte. Er soll 48 Stunden dauern und möglicherweise verlängert werden. Doch ist nicht einmal klar, ob er nur für die russischen Kampfflugzeuge gilt oder auch für jene Asads und für seine Soldaten. Wobei man anmerken muss, dass zurzeit die Soldaten Asads zwar West-Aleppo halten, aber nicht aktiv gegen Ost-Aleppo vorgehen.
Kämpfe finden jedoch statt um Aleppo herum, wobei es den Regierungstruppen darum geht, den Zugang von Ost-Aleppo nach Norden zur türkischen Grenze abzuschneiden. Die Hilfsorganisationen in Ost-Aleppo melden, dass die Nahrungsmittelzufuhr in ihren Stadtteil noch nie so lange unterbrochen geblieben sei wie gegenwärtig. Die Preise für Lebensmittel, so sagen sie, seien daher in gefährlichem Masse gestiegen. Man sieht, Zeitgewinn in Aleppo ist ein Gewinn für Asad.
Es ist zu erwarten, dass die Russen mit ihrer Politik der erklärten Waffenruhe, die örtlich und zeitlich nach Belieben gebrochen werden kann, so wie es ihnen und Asad zugute kommt, fortfahren werden. Jedenfalls so lange, bis die Amerikaner nicht nur drohen, sondern auch etwas tun. Falls es dazu kommen sollte, würde eine neue Phase des Ringens beginnen. Sie würde die Gefahren einer weltweiten Konfrontation mit atomarem Hintergrund sehr plötzlich akut werden lassen.