Alle reden von der Tea Party, aber keiner kennt sie. Viele glauben zu wissen, wofür und, vor allem, wogegen sie steht. Sie tritt ein für weniger Staat, weniger Steuern, weniger Sozialprogramme. Das Bildungs- und das Energieministerium, meinen Radikalere unter ihren Anhängern, gehörten abgeschafft. Auch die jüngste Reform des US-Gesundheitswesens ist der Bewegung ein Dorn im Auge, ebenso eine allfällige Neuordnung des Einwanderungswesens.
Überhaupt: Präsident Barack Obama, so ist in den Reihen der Bewegung zu hören, sei ein gefährlicher Sozialist und ein Muslim obendrein, der nicht einmal in Amerika geboren wurde. Die Tea Party verurteilt lauthals staatliche Hilfe für angeschlagene Banken und Konjunkturspritzen für die lahmende Wirtschaft, verdammt Abtreibungen und gleichgeschlechtliche Ehen. Entwicklungshilfe und Mitgliedschaft in internationalen Organisationen hält sie für überflüssig. Die „Washington Post“ hat sich „in einem unruhigen, unvorhersehbaren und chaotischen Wahljahr“ während Monaten die Mühe genommen, alle Gruppen, die der Tea Party angehören, zu kontaktieren und zu verstehen, wie sie einzeln und im Verband ticken.
Konservative Ideen fördern
Zur Überraschung der „Post“ gaben 70 Prozent der Basisgruppen an, sie hätten sich dieses Jahr nicht aktiv am Wahlkampf beteiligt, d.h. keine Kandidaten unterstützt oder sich hinter einem nationalen Führer eingereiht. Diese Gruppen würden sich bewusst von den wenigen grossen nationalen Verbänden abheben, die den Namen „Tea Party“ auf ihre Fahnen geschrieben hätten. Was aber wollen die Basisgruppen? „Wir versuchen als Aktivisten, konservative Ideen zu fördern“, sagt ein Vertreter der Tea Party Patriots in Pearland (Texas).
Entgegen Vertretern der Bewegung, die von mehr als 2300 lokalen Gruppen sprechen, ist es der „Washington Post“ lediglich gelungen, rund 1400 mögliche Gruppen auszumachen, die der Tea Party angehören. 647 unter ihnen hat das Blatt identifiziert und kontaktiert. Dem Blatt zufolge gibt es unter den Führern der einzelnen Gruppen nur wenig Übereinstimmung, welches die wichtigsten Ziele der Tea Party sein sollten: „Die häufigste gemeinsame Antwort, aber immer noch weniger als zur Hälfte, betraf die Staatsausgaben und das Ziel, die Grösse der Regierung zu begrenzen.“
Wenn etwas, so die „Post“, all diese Gruppen eine, dann die Motivation ihrer Mitglieder, politisch aktiv zu sein. Praktisch alle unter ihnen gäben an, die Sorge um die Lage der Wirtschaft sei ein Faktor, und fast die Hälfte sagten aus, sie würden ganz allgemein der Regierung misstrauen. Und das Fazit? Obwohl es der Tea Party derzeit noch an einer gemeinsamen Marschrichtung und Vision mangelt, ist die Bewegung „zum Handeln reif“ und könnte bei der nächsten Präsidentenwahl 2012 landesweit zu einer mächtigen Basisbewegung werden.
Wo hört die Republikanische Partei auf, wo beginnt die Tea Party
Die Medien haben den Einfluss der Tea Party lange Zeit unterschätzt und sich statt mit der Basis lieber mit deren führenden Köpfen - schillernden Persönlichkeiten wie Sarah Palin, der Ex-Gouverneurin von Alaska, oder Glenn Beck, dem konservative Radiomoderator des Radio- und TV-Senders Fox – beschäftigt. Erst als es der Volksbewegung gelang, in den Vorwahlen in einzelnen Staaten republikanische Kandidaten zu verdrängen, wurde ihr gründlichere Aufmerksamkeit zuteil. Wobei nach wie vor nicht klar ist, wo genau die republikanische Partei aufhört und wo die Tea Party beginnt. Zumindest das nationale Führungspersonal der Bewegung scheint in beiden Parteien heimisch zu sein. Derweil rekrutiert sich die Basis vor allem aus dem weissen Mittelstand.
Die Geburtsstunde der Tea Party schlug am 19. Februar 2009, als Rick Santelli, ein Reporter des Kabelkanals CNBC, im Handelsraum der Chicagoer Börse der damals noch jungen Regierung unter Barack Obama vorwarf, faule Hypotheken aufzukaufen und so „Verlierer“ zu belohnen. „Das hier ist Amerika!“, rief Santelli aus. „Wie viele unter euch wollen die Hypothek eures Nachbarn bezahlen, der zwar ein Extra-Badzimmer hat, aber seine Zinsen nicht zahlen kann?“ Die Börsianer in Chicago buhten. In der Folge breitete sich der Videoclip von Santellis Tirade auf YouTube wie ein Buschfeuer aus, und landesweit begannen sich Hunderte von Protestgruppen zu formieren: Die Tea Party war geboren. Ihr Schlachtruf: „Take America back“ – erobert Amerika zurück!
Der Schlachtruf der Anhänger der Tea Party, meinen kritische Kommentatoren, habe zum Teil eine nostalgische Komponente. „Sie wollen das Land buchstäblich in eine Vergangenheit zurückführen, als die Leute noch sichere Arbeitsplätze hatten und ein Ehepaar, das ein Mittelklassesalär bezog, mit guten Gründen erwarten konnte, dass ihre Kinder ein besseres Leben haben würden, als sie es hatten“, schreibt im „Guardian“ der Kolumnist Gary Younge:„Doch die Partei, die sie wählten, und die Kandidaten, die sie unterstützten, haben aktiv und offen darauf hin gearbeitet, diese Ziele zu sabotieren. Ihr Zorn auf die Unfähigkeit der Demokraten, ihre Wahlversprechen wahr zu machen, müsste überschattet werden von der Furcht, dass es den Republikanern gelingt, ihre Vorhaben zu realisieren.“
Geld spenden, um die Reichen noch reicher zu machen
Es ist, in den USA (aber nicht nur dort!), eine alte Geschichte: das Rätsel, weshalb grosse Teile der Bevölkerung gegen ihre ureigenen Interessen zu stimmen pflegen; die Frage, weshalb Amerikaner oft Politiker wählen, die zwar vieles, mit Bestimmtheit aber nicht das Volkswohl im Auge haben. Glenn Beck zum Beispiel forderte unlängst am Radio seine Hörer auf, der amerikanischen Handelskammer Geld zu spenden, da diese wie kaum eine andere Institution im Lande ihre Interessen vertrete: „Mitglieder der Kammer sind unsere Eltern. Sie sind unsere Grosseltern. Sie sind wie wir.“
Die Radiohörer folgten dem Aufruf so zahlreich, dass die Server der USHandelskammer vor lauter Online-Spenden vorübergehend abstürzten. Die „Washington Post“ nennt Becks Aufruf eines der aussergewöhnlichsten Ereignisse in der Geschichte des amerikanischen Populismus: „Der Mann auf der Strasse spendet freiwillig Geld, um die Reichen noch reicher zu machen.“ Zwar sei, analysiert die „Post“, der Ärger über die Politik draussen im Lande echt. Aber zornige Wähler würden getäuscht und ausgenützt von Poseuren, die der selben Klasse von „Eliten“ und „Insidern“ angehören, der die Tea Party angeblich so misstraut: „Statt den Mächtigen in den Hintern zu treten, schicken ihnen die Amerikaner Geld.“
Heilige und Halunken
Anders als andere Nationen, die im Laufe der Zeit organisch gewachsen seien, würde Amerika von Idealen zusammengehalten, schrieb der renommierte Rock- Kritiker Greil Marcus bereits 2006: „Seine Legitimität gründet einzig in wenigen schriftlichen Dokumenten. Die Versprechen, welche die Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung machten…waren so gross, dass der Verrat an ihnen Teil des Versprechens war.“ Wenn es aber etwa gibt, was die Anhänger der Tea Party heute eint, dann ist es ein Gefühl, vom System verraten worden zu sein. Wären die Mächtigen in Washington DC nur wieder gottesfürchtiger und vaterlandsliebender, würde alles wieder gut. Also kickt man die Halunken raus und wählt Heilige, die sich alsbald aber ebenfalls wieder als Halunken erweisen: die Quadratur des Teufelskreises.
Es tönt aus den Reihen der Tea Party so, als wäre Amerika nach wie vor eine Insel der Seeligen, als wäre die Wirtschaft nicht globalisiert und als wären Probleme wie Hunger, Krankheit oder Klimaerwärmung nicht schon längst grenzüberschreitend. Doch inzwischen liegt der Schock von „9/11“ über neun Jahre zurück. Damals wurde der Nation mit einem Schlag bewusst, dass zwei Ozeane keinen Schutz vor terroristischen Angriffen bieten und die Welt in ihrer ganzen Dysfunktionalität vor Amerikas Grenzen nicht Halt macht. Sie wird es auch in Zukunft nicht tun, der Tea Party zum Trotz.