Der Konstanzer Historiker Tobias Engelsing hat eine bemerkenswerte Biografie über seinen zwiespältigen Vater geschrieben. Er verschweigt und beschönigt nichts und zeigt den Zwiespalt, in dem er lebt.
In den letzten Jahren häufen sich Bücher, die die eigene Familiengeschichte zum Thema machen. Vor allem dann gerne, wenn sich auch jüdische Vorfahren finden. Es ist sicher leichter, sich auf der Seite der Opfer zu sehen, und sehr viel schwerer, eine Haltung zu Tätern zu finden. Tobias Engelsings Recherche zu seinem Vater ist da eine bemerkenswerte Ausnahme, vom Stoff wie von der Herangehensweise her.
Engelsing, 1960 in Konstanz geboren, ist von Hause aus Historiker und Journalist und leitet seit einigen Jahren die Konstanzer Museen. Sein Vater, Herbert Engelsing, starb 1962 mit 58 Jahren in Konstanz, er hat also kaum eine Erinnerung an ihn. Dieser Vater, Jurist von Hause aus, in erster Ehe verheiratet mit einer «Halbjüdin», hatte in der NS-Zeit eine bemerkenswerte Karriere im Filmkonzern Tobis gemacht, wo er als Herstellungsleiter an der Festigung des Regimes mit Mitteln des Films ohne Bedenken mitarbeitete.
Die verhafteten Freunde verrieten sie nicht
Gleichzeitig war der eigentlich demokratisch und liberal Gesinnte und alles andere als überzeugte Nationalsozialist eng verbunden mit Vertretern der Opposition und des Widerstands. Vor allem war das Ehepaar Engelsing befreundet mit Harro und Libertas Schulze-Boysen, die beide als führende Mitglieder der Widerstandsgruppe «Rote Kapelle» 1942 hingerichtet wurden. Die Engelsings aber entgingen mit viel Glück der Gestapo, auch weil die verhafteten Freunde sie nicht verrieten.
Zur selben Zeit hielt Herbert Engelsing aber auch freundschaftlichen Kontakt zu führenden Nationalsozialisten wie Hans Globke, den er schon aus seinen Jugendjahren kannte, der zum Kommentator der Nürnberger Rassegesetze 1935 wurde und nach dem Krieg seine Karriere als Kanzleramtschef unter Konrad Adenauer fortsetzte. Oder mit Filmstars wie Käthe Dorsch, die sich ganz in den Dienst des Regimes gestellt hatten. Während seine Schwiegereltern in die USA emigrierten, blieb Ernst Engelsing mit seiner halbjüdischen Frau.
Mut und Opportunismus – alles in einer Persönlichkeit
Tobias Engelsing geht es in seiner Auseinandersetzung mit dieser Biografie nicht um ein angemasstes «Opfernarrativ» und ebenso wenig um eine Anklage. Vielmehr ist sein Buch die äusserst schwierige Erforschung einer Persönlichkeit, die diese widersprüchlichen Züge in sich vereinte und widersprüchlich handelte. Hier der Mut, dort der Opportunismus. Mit den Methoden des Historikers, der die Quellen sucht und auswertet – vieles wurde erst nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs zugänglich – sucht Engelsing diese Geschichte so genau wie möglich zu rekonstruieren.
Immer wieder stösst er dabei auf ein ihm schwer verständliches Verhalten. Was schmerzlich ist für einen Sohn, der sich damit ehrlich auseinandersetzen will. Dieser Zwiespalt zieht sich durch das ganze Buch und zeigt sehr nachvollziehbar diesen Konflikt, den des Vaters wie den eigenen. Er macht diese Biografie auch zu einer Ausnahme, wo es sonst meist um eindeutige Zuordnung geht zur Opfer- oder zur Täterseite.
Deutlich spricht er aus, dass sein Vater kein Widerstandskämpfer war, der zur Tat schritt wie seine Freunde. Aber er versorgte sie mit vielen Informationen (und warnte sie), zu denen er durch seine Arbeit im Innern der von Joseph Goebbels kontrollierten NS-Traumfabrik Zugang hatte. Was bei Herbert Engelsing fehlt, ist die gerade von NS-Funktionsträgern später gern verwendete Selbtsbeschwichtigung, man habe durch Mitmachen Schlimmeres verhüten wollen. Aber er hat sich auch nichts dabei gedacht, dass er indirekt davon profitierte, dass die jüdischen Angestellten fortgejagt wurden. Hatte Tobias Engelsing noch lange geglaubt, der Vater habe lediglich Unterhaltungsfilme produziert, musste er nach 1990 diesen Glauben revidieren, als neue Akten in Ostberlin auftauchten. Auch die Filmindustrie diente dem «Endsieg».
Neun Jahre lang führte Engelsing dieses Doppelleben, empfing abends nach getaner Arbeit im Sinne des Regimes in seinem Haus im Grunewald die Freunde aus dem Widerstand, während nebenan vom Bahnhof Grunewald die Deportationszüge rollten. Dass er nicht aktiv bei der «Roten Kapelle» mitmachte (dieser Name stammt übrigens von der Gestapo), die auch Moskau mit Informationen versorgte, begründet der Sohn damit, dass der Vater das «Paktieren mit den Russen» aus Angst vor einer kommunistischen Diktatur abgelehnt habe. Wollte Harros Schulze Boysen den NS-Staat stürzen, half Herbert Engelsing einzelnen, ihm zu entkommen. Tobias Engelsing vermutet, für seinen Vater habe seine Widersetzlichkeit seinen Opportunismus aufgewogen.
Nachkriegskarriere in Konstanz
Den letzten seiner Filme produzierte Herbert Engelsing in Konstanz, liess heimlich seine Frau und die beiden im Krieg geborenen Kinder nachkommen und wartete hier das Kriegsende ab. Nach diesem Kriegsende spürt er, dass er in diesem Deutschland nicht mehr bleiben wollte. Er schickte Frau und Kinder in die USA zu den Schwiegereltern in der festen Absicht nachzukommen. Aber das gelang nicht mehr. Denn inzwischen hatte der amerikanische Geheimdienst mithilfe der «Organisation Gehlen», Vorläuferin des Bundesnachrichtendienstes, mitbekommen, dass Engelsing Verbindungen gehabt hatte zur «Roten Kapelle». Gegen die hetzten die Ex-Gestapo-Männer Gehlens auch nach dem Krieg weiter, als Männer, die einen kommunistischen Putsch vorbereiteten.
So wurde verhindert, dass der «verdächtige» Engelsing eine Aufenthaltsgenehmigung in den USA bekam. Er etablierte sich schliesslich als höchst erfolgreicher Rechtsanwalt in Konstanz, während die Ehe durch diese erzwungene Trennung in die Brüche ging. Engelsing heiratete noch einmal und wurde Vater seines Sohnes Tobias. Die aufreibende Zeit, die hinter ihm lag, hatte auch seiner Gesundheit schwer geschadet und führte zu dem frühen Tod.
Beeindruckend an diesem fesselnden, auch ausgezeichnet geschriebenen Buch ist die Aufrichtigkeit des Autors und sein Bemühen, auch dunkle Seiten genau auszuleuchten. Insofern weist das Buch auch über die beschriebene Zeit hinaus.
Tobias Engelsing: Kein Mensch, der sich für normale Zeiten eignet. Mein Vater zwischen NS-Film und Widerstand. Propyläen 2022, 447 Seiten, Fr. 39.90, ebook Fr. 22