Philippe Jordan kommt zwar aus Zürich, aber seinen Weg als Dirigent hat er vor allem im Ausland gemacht, von Deutschland über Paris bis nach Wien, dazu Gastspiele an den wichtigsten internationalen Opern- und Konzerthäusern.
Nun hat er’s wieder mal nach Zürich geschafft … und zwar in die Tonhalle. «Ja, tatsächlich ist es nun schon zehn Jahre her, seit ich das letzte Mal hier dirigiert habe …» Philippe Jordan kann es selbst kaum glauben. «Tschaikowskys ‘Pathétique’ war es damals …»
Und so viel ist seither geschehen. Zum Beispiel ist die Tonhalle renoviert worden, das Dirigentenzimmer sieht jetzt nobel aus und hat sogar eine Kaffeemaschine, der Weg zur Bühne ist anders. «Aber es ist immer ein wunderbares Erlebnis, hier zu sein», schwärmt er nach der Probe. «Das Tonhalle-Orchester hat sich in den letzten zwanzig, dreissig Jahren zu einem Spitzenensemble von erster Qualität entwickelt, mit einem unglaublich guten Arbeitsethos und grosser Motivation. Man merkt, dass alle gut miteinander kommunizieren und eine ganz eigene Art haben, zu musizieren. Es ist grossartig, dies hier nach langer Zeit wieder zu erleben.»
Demokratisches Orchester
Philippe Jordan spricht mit ehrlicher Begeisterung über die Zusammenarbeit mit dem Tonhalle-Orchester. Und er hat im Laufe der vergangenen Jahre viele Erfahrungen bei Konzerten mit anderen, grossen, internationalen Orchestern gemacht. Nicht zuletzt auch mit den Orchestern der Pariser Oper und der Wiener Staatsoper, wo er Musikdirektor war (Paris), beziehungsweise noch immer ist (Wien). Was unterscheidet denn nun aber das Tonhalle-Orchester von anderen? Philippe Jordan: «Also zunächst einmal ist es der Saal. Wir haben das Glück, in Zürich einen der schönsten und besten Konzertsäle der Welt zu haben. Und ich sage dies im Wissen, dass wir in Wien mit dem Konzerthaus und dem Musikverein ‘top of the top’ haben. Es gibt nichts Besseres. Die Tonhalle steht aber kaum nach … sie ist halt etwas kleiner und man kann weniger auftrumpfen, man muss kammermusikalischer spielen, ein bisschen feiner. Und der Saal formt den Charakter des Orchesters. Es ist ein Schweizer Orchester im besten Sinne, ein demokratisches Orchester, in dem miteinander gespielt wird, und ein eigener Klang entsteht. Das hört man. Gerade auch auf den Einspielungen von David Zinman.»
Das Programm jetzt in der Tonhalle – Robert Schumanns «Rheinische Sinfonie» und Teile aus Richard Wagners «Götterdämmerung» – war Jordans Vorschlag, dem von Seiten der Tonhalle gern zugestimmt wurde. «Ich selbst habe natürlich mit Zürich und Wagner viele Verbindungen. Gerade auch durch das Opernhaus. Aber seit den ‘Meistersingern’ 2010 habe ich hier keinen Wagner mehr dirigiert …» Wobei Zürichs Opernhaus durch den «Ring»-Zyklus im Frühling gerade reichlich viel Wagner hat … Philippe Jordan lacht. «Aber jetzt darf die Tonhalle auch einmal …!»
Lernen bei Wagner
Wagner zieht sich fast ein bisschen wie ein roter Faden durch Philippe Jordans Laufbahn. «Oh, es gibt verschiedene rote Fäden …», wirft er gleich ein. «Aber natürlich, als Dirigent, insbesondere als Operndirigent, stehe ich in dieser Tradition, die Wagner mitbegründet hat. Ich bin ein Dirigent der alten Schule, der den Weg vom Korrepetitor zum Generalmusikdirektor durchlaufen hat …, aber wenn man Wagner dirigiert, lernt man den Job des Dirigenten noch einmal ganz neu. Da gibt es ein Dirigenten-Leben vor Wagner und ein Dirigenten-Leben nach Wagner. Nicht nur in Bezug auf die Persönlichkeit und Interpretation, das sowieso, sondern rein technisch: also wie man mit Musik grundsätzlich umgeht, wie man mit Wagner umgeht und was sich auf alle Komponisten überträgt: also schnelle Tempi nicht zu schnell, langsame nicht zu langsam. Da kann man natürlich viel Eindruck schinden, wenn man will … oder sehr laut oder sehr leise, da muss man bei Wagner sehr geschickt dosieren, wie ein Apotheker oder Homöopath … die Dosis macht das Gift, wie viel gibt man? Wenn man zu früh zu viel gibt beim Crescendo oder Accelerando, dann verpufft es! Das bringt uns Wagner bei und natürlich auch die Zwischentöne …»
Eindeutig: Wagner hört (und spielt) man heute anders als zu früheren Zeiten. In Paris hat Philippe Jordan den «Ring» mit einem französischen Orchester erarbeitet – und die Musik hat ihren schweren, schwulstigen Klang verloren. Das Pariser Publikum war hingerissen und lag Philippe Jordan sozusagen zu Füssen … Und im Zürcher Opernhaus richtet Gianandrea Noseda den «Ring» mit einer zünftigen Portion Italianità an – und verführt auch ein Nicht-Wagnerianer-Publikum zu heller Begeisterung.
Transparenz und Farben
«Das Opernhaus-Orchester war schon durch Franz Welser-Möst zu diesem transparenteren Klang geführt worden», sagt Philippe Jordan. «Der Opernhaus-Saal ist halt – wie die Tonhalle – kleiner und da muss man anders spielen. Aber dieser Zürcher Klang war in der Bastille in Paris nicht möglich. In diesem riesigen Raum muss man etwas mehr geben – und es bleibt immer noch transparent. Es geht auch nicht nur um laut, leise, schnell oder langsam. Es gibt nicht nur fortissimo, es gibt forte, più forte, poco forte oder im Piano-Bereich Più piano und dann pianissimo. Da gibt es drei Farben bei Wagner und er notiert sie sehr penibel. Wenn man die befolgt, ist es ganz schön schwierig, sie umzusetzen. Pianissimo ist klar, aber più piano …? Diese Relationen, die Abmischungen …» Das ist dann die Kunst.
Philippe Jordan kommt richtig in Fahrt und es wird einem fast schwindelig beim Zuhören. Eines scheint klar: Wagner klingt heute definitiv anders und Wagner hört man heute anders als in früheren Jahren. «Ja», bestätigt Philippe Jordan, «aber man darf nicht vergessen: Herbert von Karajan war der erste, der es schon in den Sechzigerjahren in dieser Richtung gemacht hat und als man plötzlich dachte: Das klingt ja wie Debussy! Von Seiten der Kritik wurde das sofort akzeptiert, nur in Amerika hat man die Nase gerümpft und gesagt: That is not Wagner … Dann kam Pierre Boulez nach Bayreuth und so langsam ging es nicht mehr darum, das deutsche Wagner-Cliché zu bedienen, sondern mal in der Partitur zu lesen, was wirklich drinsteht.»
Bayreuth ist aber auch gleich ein Stichwort … Eigentlich hätte Philippe Jordan im Sommer dort den gesamten «Ring des Nibelungen» dirigieren sollen. Dann plötzlich die Absage. Aus Termingründen, wie es heisst. Was ist da los? Philippe Jordan sagt es mit grösstem Bedauern: «Tja, alle Seiten wollten es eigentlich. Aber ich habe halt noch einen Job als Musikdirektor an der Wiener Staatsoper. Und gleich zu Beginn der nächsten Spielzeit habe ich eine Neuproduktion, eine wichtige grosse Oper. Da gibt es im Sommer Vorproben. Wir wussten, dass es terminlich schwierig wird – und haben es leider nicht geschafft …» Es ist sein letztes Jahr in Wien und die Staatsoper hat Vorrang.
Zäsur und Neu-Orientierung
Und dann? «Also der Sommer ’25 wird eine Zäsur in meinem Leben», das ist Philippe Jordan klar. Es soll nicht noch einmal ein Posten wie an der Pariser Oper oder der Wiener Staatsoper sein. «Erstens gibt es danach keine Steigerung mehr … und zweites sollte man altersmässig so zwischen Mitte dreissig und fünfzig sein. Man braucht viel Kraft, nicht nur für die Proben und Vorstellungen, sondern für die Planung, das Vorsingen, Besprechungen, und man sollte auch für die Medien da sein … das macht man eine Zeitlang gern.» Die meisten seiner Vorgänger haben das ebenfalls nur eine gewisse Zeit gemacht. Was neuestens aber auch noch hinzugekommen ist, sind die Auseinandersetzungen über das sogenannte Regie-Theater, die wir in Zürich vor allem vom Schauspielhaus her kennen. «Da muss man streiten können … und streiten wollen, man muss vermitteln und Kompromisse schliessen, man muss ausprobieren, verwerfen, sich durchsetzen … das ist anstrengend.» Es wird klar, dass er das nicht mehr will. «Aber Oper wird immer ein Teil meines Lebens bleiben.»
Wie’s weitergeht ist noch offen. Dieses Jahr wird er 50 Jahre alt, und klar ist für ihn nur, dass er nicht das ganze Jahr aus dem Koffer leben und von einem Konzert zum anderen um die Welt reisen will. «Das habe ich mit zwanzig gemacht, jetzt werde ich die Zeit nutzen, um mich neu zu orientieren und mich dann ab 2027 mit einem anderen Orchester komplett neu zu positionieren.»