Es ist hinlänglich bekannt, dass man im 18. und 19. Jahrhundert Millionenvermögen verdienen konnte dadurch, dass man gewisse Informationen schneller hatte, als die damals organisierten Märkte - beispielsweise über den Ausgang von Kriegen, über die Qualität von Ernten, den Ausbruch von Naturkatastrophen oder ähnlichem.
Börsen und Finanzmärkte waren immer schon ein Wettlauf mit und um Information. Die Preise an organisierten Märkten werden letztlich ja getrieben von fundamentalen Entwicklungen. Und wenn jemand über diese Entwicklungen schneller Bescheid weiss, als alle anderen, dann hat er einen Informationsvorsprung, der sich in bare Münze umwandeln lässt.
Das ist und war am Gemüsemarkt genau gleich wie am Markt für Tulpenzwiebeln, am Markt für Futures und Optionen, für seltene Erden oder für den simplen Aktienmarkt. Der einzige Unterschied zwischen heute und damals ist, dass man weiland halt einen schnellen Reiter mit einem guten Pferd brauchte, um über den Ausgang einer Schlacht besser informiert zu sein, als andere Börsenteilnehmer. Die Fortschritte der Informations- und Telekommunikationstechnik haben uns hier in den letzten Jahrzehnten sehr viel weiter gebracht. Vom Automobil über den Telegraphen, das Telefon, das Handy bis hin zu den wundersamen Glasfasernetzen und weiss der Kuckuck noch wohin. Aber hat uns der technische Fortschritt vielleicht auch an komische Orte geführt?
Nur noch Technik, keine Menschen mehr
Der damalige Reiter überbrachte eine Information, die für Firmen und/oder Produkte fundamentale wirtschaftliche Konsequenzen hatte, die sich schliesslich in den Preisen niederschlug. Wer schneller war, gewann. Die späteren modernen Technologien führten dann zu einer gewaltigen Verbreitung der relevanten Information und damit zu einer grösseren Effizienz und einer eigentlichen Demokratisierung der Märkte. Alle hatten jetzt gleichzeitig Zugang zu preisrelevanter Information.
Die Entwicklung ist aber nicht stehengeblieben. Heute jagen ultraschnelle Glasfaserkabel Informationen in Bruchteilen von Sekunden – die Einheiten werden in Millionstel Sekunden gemessen – rund um die Börsenwelt. Aber welche Information? Spielt es wirklich eine Rolle, ob man die neueste (eh falsche) Zahl zum US-Bruttoinlandprodukt eine Sekunde früher oder später hat?
Vielleicht. Nur beziehen sich die Informationen, die heute in Nanosekunden durch die millionenschwere Infrastruktur der Börsenbetreiber gejagt werden kaum mehr auf fundamentale Daten. Es sind fast ausschliesslich Daten zu oder für algorithmische Handelsstrategien irgendwelcher Parteien, die bestenfalls noch technische Arbitrage zwischen verschiedenen Börsen betreiben, im Zweifelsfall aber auf irgendwelche Kursbewegungen reagieren, die sich selbst wieder aus technischen Konstellationen an irgendwelchen Börsen ergeben. Nur noch Technik. Keine Menschen mehr. Alles innerhalb von Sekundenbruchteilen. Wer Michael Lewis’ kürzliches Buch zu den „Flash Boys“ liest kommt zum Schluss, dass in diesem Bereich niemand mehr wirklich versteht, was effektiv abläuft. Das ist besorgniserregend. Und auf jeden Fall hat dies alles nichts mehr zu tun damit, dass den Börsen eigentlich eine wichtige Funktion innerhalb einer arbeitsteiligen Wirtschaft zukommt.
Noch weiss niemand wirklich, was am 6. Mai passierte
Dabei gründet meine Besorgnis nicht darin, dass wir es hier möglicherweise mit unredlichen oder gar kriminellen Praktiken zu tun haben, wie Lewis meint. Mir geht es eher darum, dass irgendwelche ausschliesslich analytisch denkenden Hochfrequenztechniker, die in keiner Art und Weise weder die grösseren Zusammenhänge verstehen, noch sich dafür interessieren, an irgendwelchen Maschinen und/oder Techniken herumturnen, die irgendeinmal Konsequenzen haben werden, die meilenweit über die kurzfristigen Markttechnikalitäten hinausgehen.
Ein Beispiel ist der 6. Mai 2010: Um viertel vor drei stürzt der US Aktienmarkt innerhalb von Minuten um 600 Punkte ab. 20'000 Transaktionen werden zu Kursen getätigt, die um mehr als 60 Prozent (!) entweder über oder unter den Kursen lagen, die eben noch auf den Bildschirmen standen. Kurz darauf steigt der Markt wieder auf sein früheres Niveau. Zufall? Unfall? Auf jeden Fall ein „Worst-Case“, der im Nachhinein harmlos „Flash-Crash“ genannt wird. Aber was war passiert? Bis heute scheint noch niemand befriedigend und vernünftig erklären können, was sich am 6.Mai 2010 tatsächlich abgespielt hat. Wenn man sich aber technische Experten anhört, war das ein Fall von vielen, der aber zufällig bekannt geworden ist. Und es sei weniger eine Frage des „ob“, als eine Frage der Zeit, bis sich ähnliches (oder Gröberes?) wiederholt.
Wenn man in anderem Kontext schon überall den Begriff des systemischen Risikos strapaziert, hier ist er sicher gerechtfertigt.
Wir verstehen die Technik nicht mehr vollständig
Es wird Zeit, dass wir uns bewusst werden, dass wir an den Finanzmärkten die Technik so weit getrieben haben, dass wir sie nicht mehr vollständig verstehen und sie im Zweifelsfall mehr schadet als nützt. Ausdruck davon ist wohl auch, dass die Intraday-Volatilitäten (die Schwankungen der Aktienbörse innerhalb eines Tages) im neuen Jahrzehnt um rund 40 Prozent höher sind, als noch in den Nullerjahren.
Dies obwohl sonst die Meinung vertreten wird, dass die langfristigen Schwankungen nicht wesentlich zugenommen haben. Im übrigen ist es in diesem Kontext auch wichtig zu wissen, dass heute zwischen fünfzig und achtzig Prozent des Handelsvolumens an den US Börsen durch Maschinen und nicht mehr durch Menschen ausgelöst werden. Ist es das, was unsere Vorväter seinerzeit meinten, wenn sie sagten, der Markt sei der Beste aller schlechten Allokationsmechanismen in einer arbeitsteiligen Wirtschaft? Ich habe meine Zweifel.
Der nächste Crash kommt bestimmt
Wir sollten uns keine Illusionen machen: Der nächste Crash an den Finanzmärkten kommt sicher. Wir wissen heute nicht wo, wann und auch nicht, was dann zumal die Auslöser sein werden. Die Wirtschafsgeschichte ist voll von Bubbles und Crashes. Und sie schmerzen. Sie lassen sich aber im Nachhinein in der Regel aus dem Verhalten der Marktteilnehmer heraus auch fundamental vernünftig begründen (ich will damit nicht sagen, dass Bubbles und Crashes vernünftig seien, aber das ist ein anderes Thema). Mit anderen Worten, sie gehören zum Auf und Ab der wirtschaftlichen Dynamik. Wenn wir uns aber in der Zukunft noch weiter „ver-crashen“ lassen müssen, nur weil wir die technischen „Errungenschaften“ an den Börsen so weit getrieben haben, dass wir sie selber nicht mehr verstehen, dann stimmt mich das sehr nachdenklich.
Leicht revidierte Version einer Arbeit, die im Frühjahr 2014 in PRIVATE erschienen ist.