Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in Europa keine rechtsstaatsfernere Institution als die EU. Selbst Franco-Spanien und Obristen-Griechenland waren dagegen Waisenknaben, zumindest lokal beschränkt. Systematisch wurden in der Euro-Krise die letzten Reste von rechtsstaatlichen Mitbestimmungsrechten der Betroffenen in der EU an Dunkelkammern ausgelagert
Vollmachten über 700 Milliarden Euro
Wie an den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Das ist eine Aktiengesellschaft nach Luxemburgischen Recht mit einem in keiner Form legitimierten «Gouverneursrat», der haftungsfrei und mit Immunität ausgestattet unbeschränkte Vollmachten über mindestens 700 Milliarden Euro hat. Diesen Betrag kann er beliebig anheben. Dieses Beispiel sollte genügen, um den Zustand des Rechtsstaats EU zu illustrieren.
Und die Schweiz?
Die Schweiz ist der älteste existierende Rechtsstaat Europas. Föderalismus, direkte Demokratie und persönliche Behaftbarkeit der Regierenden schützen die Eidgenossen davor, als Untertanen Opfer der Obrigkeit zu werden. Nicht immer, nicht überall, aber meistens. Nicht zu unterschätzen ist auch die lange Tradition, die Rechtsstaatlichkeit braucht, um sozusagen in die Gene der Staatsbürger eingebaut zu werden. Deshalb sind die Beschädigungen des Rechtsstaats Schweiz im Rahmen der Finanz- und Bankenkrise keine tödliche Gefahr. Aber bedenklich.
Der Fluch der bösen Tat
Eine Ritzung der Rechtsstaatlichkeit muss keine tödliche Wunde verursachen. Aber sie ist ein Einfallstor für Wiederholungen. Es war Unfug, die aus eigener Schuld in eine existenzbedrohende Krise nach der anderen taumelnde UBS zunächst mit Steuermilliarden zu retten. Es war unverantwortlich, sie anschliessend mit Notrecht, Rechtsbruch und dem Unding nachträgliche Legitimierung durch das Parlament ein zweites Mal zu retten. Wer damals noch an einen nicht anders abwendbaren Schaden für die gesamte Schweizer Wirtschaft glaubte, wurde inzwischen eines Besseren belehrt. Denn die böse Tat wirkt fort.
Wer K sagt, muss auch B sagen
Wer Kundenverrat und Wortbruch nachträglich legitimiert, hat die Büchse der Pandora geöffnet. Dann ist es nur noch ein kleiner Schritt, auch den Verrat an Bankmitarbeitern zu legitimieren. Gleichzeitig ist das aber ein Schritt tief in den Abgrund. Denn hier geht es nicht mehr alleine um die Beziehung zwischen Kunde und Bank. Hier geht es um das Verhältnis des Staatsbürgers zum Staat. Obwohl es nicht uns alle betrifft, ist die staatliche Aufforderung zur Auslieferung von Mitarbeiterdaten an eine ausländische Macht eine Bedrohung für uns alle.
Der Grundkonsens
In einem Rechtsstaat tritt der Bürger eigene Rechte an den Staat ab. Im Vertrauen darauf, dass der Staat sie sorgfältig hütet, seine Staatsbürger beschützt. Und nur dann bestraft, wenn sie gegen Gesetze verstossen. Wobei sie sich darauf verlassen können, dass für ihr Handeln in der Schweiz nur Schweizer Gesetze massgebend sind.
Ist das Handeln in der globalisierten Wirtschaft grenzüberschreitend, dann gilt für sie dennoch in erster Linie der Rechtsstand Schweiz. Wenn der Staatsbürger sich dabei nicht auf die Fürsorgepflicht seines Arbeitgebers, konkret seiner Bank, verlassen kann, dann vertraut er auf die Fürsorgepflicht seines Staates.
Wildwest
Wo kommen wir hin, wenn die Schweizer Regierung dafür Hand bietet, dass Informationen über in der Schweiz ausgeübte und nach Schweizer Recht nicht strafbare Tätigkeiten an eine ausländische Macht übergeben werden? Wo kommen wir hin, wenn diese ausländische Macht die USA sind, die die Rechtssouveränität der Schweiz mit Rechtsimperialismus brechen wollen? Die mit rechtsfremden Mitteln wie Drohung, Erpressung und ohne Rücksicht auf gültige Schweizer Gesetze ihre Wildwest-Rechtsauffassung weltweit durchsetzen wollen?
Da kommt der Schweizer Staatsbürger in die kafkaeske Situation, dass er, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein, plötzlich verhaftet wird, sollte er die Landesgrenze überschreiten. Denn er wurde weder von seinem Staat noch (in den meisten Fällen) von seinem Arbeitgeber über die Auslieferung von Informationen über ihn in Kenntnis gesetzt. Ganz zu schweigen davon, dass er keine rechtlichen Mittel hatte, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
Krise des Rechtsstaats
Sollten die Informationen zutreffen, dass auf diese Art in rund 10 000 Fällen und auf gelinde gesagt wackliger Rechtsgrundlage Schweizer Bankmitarbeiter ans Messer geliefert wurden, dann ist es nicht zu hoch gegriffen, von einer neuerlichen Krise des Rechtsstaats Schweiz zu sprechen. Und die hat nur sehr indirekt mit Schwarzgeld, Steuerhinterziehung und allfälligen strafbaren Handlungen von Schweizer Bankern im Ausland zu tun. Sondern sie ist hausgemacht.