Wie immer am 25. März, am Nationalfeiertag, defilierten vor dem Parlament Einheiten des Militärs. Was fehlte, war die Bevölkerung. Coronabedingt schauten sich Griechinnen und Griechen die Feierlichkeiten und das Ehrenbankett mit geladenen Gästen im Amtssitz des Ministerpräsidenten zu Hause am Fernsehgerät an. Es sollte das Fest der Befreiung sein.
Welche Ironie: Eingesperrt in die eigenen vier Wände verfolgen die Menschen, wie die eingeladenen Gäste speisen – die Reichen und Mächtigen – (natürlich ohne Masken, mit wenig Abstand und mit mehr Gästen als eigentlich zugelassen wären) und müssen sich selbst beim Gang in den Supermarkt per SMS melden. Ich habe mir überlegt, in den nächsten Tagen einen Beitrag zum Thema 200 Jahre modernes Griechenland zu schreiben und das Thema auch an der Aktualität zu spiegeln. Aber was soll man einem Jubilar zum 200. Geburtstag sagen?
Nun hat mich meine Frau auf den Beitrag aus dem Blog von Nikos Dimou aufmerksam gemacht. Dieser Text aus der Feder des Schriftstellers, der im deutschsprachigen Raum mit dem Buch, „Das Unglück, ein Grieche zu sein“, bekannt wurde, hat mich zu Tränen gerührt. Ich habe den Text deshalb mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Sonntagszeitung To Vima von der Sprache Homers in die Sprache Goethes übersetzt und möchte ihn Ihnen, geneigte Leserin, geneigter Leser, sehr zur Lektüre empfehlen. Ich versehe ihn mit gewissen Anmerkungen zum besseren Verständnis.
Ein Patient feiert Geburtstag
Von Nikos Dimou
Ich habe nachgedacht, während ich – wie alle anderen auch – im Fernsehen die Direktübertragungen zur Feier des Tages, die Parade und die hohen Gäste gesehen habe.
Dieses unglückliche Land feiert Geburtstag, während die Patienten vor den Krankenhäusern Schlange stehen und Tausende von Familien um ihre Liebsten trauern.
Aber wann war dieses Land gesund und glücklich?
Es wurde mit Hilfe von Ausländern aus einer Revolution heraus geboren, die Dutzende von Bürgerkriegen mit sich brachte. Ihr erstes (und vielleicht bestes) Staatsoberhaupt (1) war auch ein unverzichtbarer Arzt – und wurde bei einem Aufstand ermordet, während Miaoulis (2) die Flotte in Brand setzte. Was folgte darauf? Wie Georgios Dertilis schreibt: „Von 1821 bis 2012 war Griechenland in vier Bürgerkriege und sieben Kriege verwickelt.“ Ausserdem ist der griechische Staat in diesen zwei Jahrhunderten insgesamt sieben Mal Bankrott gegangen.
Woran soll man sich in zweihundert Jahren sonst noch erinnern? An die dummen Konflikte zwischen autochthonen Griechen und gebildeten Griechen, die im 19. Jahrhundert in den neugriechischen Staat eingewandert sind? Oder an den Krieg von 1897, als die Türken fast Athen erreichten – und nur von fremden Mächten aufgehalten wurden?
Ja, es gab auch Momente des Ruhms und des Stolzes –, aber sie wurden durch die Tragödie der kleinasiatischen Katastrophe (3) ausgelöscht. Über eine Million Flüchtlinge – wie integriert man sie?
Normalerweise hätte Griechenland inmitten von Bürgerkriegen und Bankrotten untergehen müssen. Ich kenne kein anderes Land, das durch zwei so turbulente und mörderische Jahrhunderte gegangen ist. Während andere Länder dabei waren, die Traumata des Zweiten Weltkriegs zu überwinden, kämpften wir auf dem Grammos und in Vitsi unseren eigenen Bürgerkrieg (4). Als die Jugend international Tauwetter verbreitete – vom Mai ’68 bis Woodstock – waren wir mit einer Diktatur (5) unterwegs im Rückwärtsgang, eine Diktatur, die uns für sieben lange Jahre immobilisierte und «eingipste», wie einer der Diktatoren zu sagen pflegte. In den 1990er Jahren, nach der klugen und seriösen Regierung Simitis, führte uns eine verschwenderische und chaotische Macht in den jüngsten Bankrott (6).
Als mein Buch, „Das Unglück, ein Grieche zu sein“, in Deutschland veröffentlicht wurde, schrieb eine Kritikerin, dass „dieses Werk die Klage eines untröstlichen Liebhabers“ sei. Das war eine sehr zutreffende Beobachtung. Ich liebte und verehrte Griechenland – damals und heute – und alles, was dieses Land verletzte und verletzt, verletzt auch mich. Diese sechsundachtzig Jahre des Zusammenlebens waren und sind eine schwierige und schmerzhafte Sache.
Und jetzt feiern wir, während die Intubierten und die Leichen die Spitäler durch die Hintertüren verlassen!
Und doch summe ich still für mich das alte Kampflied: „Griechenland stirbt nie …“ Und in der Tat, wenn es etwas gibt, das uns von anderen Staaten unterscheidet, dann ist es nicht die Schönheit unserer Landschaften, Berge und Inseln, es ist nicht das hohe Niveau unseres poetischen Diskurses. Welches Land hat gleichzeitig einen Solomos, Kalvos, Kavafis, Seferis, Elytis oder Ritsos? Was uns auszeichnet, ist unser Durchhaltevermögen und unsere Hartnäckigkeit. Wir machen oft das Leichte schwer – als ob wir unsere Kräfte testen wollen. Aber meistens gelingt es uns.
Also alles Gute zum Geburtstag, Griechenland, mögest du leben, blühen und gedeihen! Wir haben gemeinsam schwierige Zeiten durchlebt, Krieg, Besatzung, Bürgerkrieg, Diktaturen, Bankrotte. Ich werde eines Tages (hoffentlich so spät wie möglich …) weg sein, aber Du, mein Land, wirst weitermachen. Ich hoffe, dass Du zu Dir selbst findest, zu Deiner Identität, die immer noch zwischen Ost und West schwankt. Mögest Du Deine allzu glorreiche Vergangenheit mit der ärmeren Gegenwart versöhnen. Geniesse die Schönheit Deiner Landschaft ohne Mülldeponien und Abfallhalden. Werde ein „Süddänemark“, wie es sich jemand erträumt hat.
Und sorge dafür, dass diese Verse von Lord Byron aus der Welt der Poesie gelöscht werden:
„For what is left the poet here?
For Greeks a blush – for Greece a tear.“
1) Ioannis Kapodistrias war das erste Staatsoberhaupt des neugriechischen Staates. Er wurde von Rivalisierenden ermordet. Die nachfolgenden Machtkämpfe wurden durch eine ausländische Intervention beendet – ein schlechtes Omen für den neugriechischen Staat.Vor seinem Amt als griechisches Staatsoberhaupt war Kapodistrias unter anderem Diplomat in den Diensten des Zaren und leitete am Wiener Kongress die Arbeitsgruppe, die die Neuordnung der Schweiz vorbereitete.
2) Admiral Andreas Miaoulis verbrannte griechische Kriegsschiffe, damit sie nicht in russische Hände fielen. Er war ein Rivale von Kapodistrias.
3) Nach dem Ersten Weltkrieg wurde eine griechische Armee nach Kleinasien entsandt, um das Gebiet von Smyrna (heute Izmir) zu befrieden. Der nördliche Teil des Epirus, die Inseln Imbros und Tenedos sowie Ostthrakien(einschliesslich Adrianopel, heute Edirne) und die damals mehrheitlich griechischsprachigen Regionen des westlichen Kleinasien, einschliesslich Smyrna – aber nicht Konstantinopel –, wurden dann im Vertrag von Sèvres 1920 Griechenland zugesprochen. Die griechische Armee drang dann aber über die im Vertrag von Sèvres vereinbarte Demarkationslinie ins Landesinnere vor und wurde kurz vor Ankara vernichtend geschlagen. 1922 endete dieser Griechisch-Türkische Krieg infolge der griechischen Niederlage in der „Kleinasiatischen Katastrophe“, der Vernichtung oder Vertreibung aller Griechen vom kleinasiatischen Festland. Im Vertrag von Lausanne 1923 wurde dann ein radikaler Bevölkerungsaustausch vereinbart, bei dem die Griechen, die noch nicht getötet oder vertrieben wurden, die Türkei verlassen mussten und die Türken aus Griechenland in die Türkei umgesiedelt wurden. Ausgenommen von diesem Bevölkerungstransfer waren namentlich die Konstantinopler Griechen, die Griechen auf Imbros und Tenedos, sowie die türkischstämmigen Muslime in Westthrakien.
4) Der Zweite Weltkrieg ging fast nahtlos in den sehr blutigen Griechischen Bürgerkrieg über. Er entstand aus dem Konflikt zwischen linken Kräften, die durch Albanien und Jugoslawien unterstützt wurden, und der konservativen griechischen Regierung, welche von Grossbritannien und den USA unterstützt wurde. Dieser bis 1949 andauernde Bürgerkrieg spaltete die Gesellschaft bis mindestens in die achtziger Jahre.
5) Griechische Militärdiktatur 1967 bis 1974 oder Regime der Obristen
6) Gemeint ist die Regierung des Neudemokraten Kostas Karamanlis (2004–2009), die ich in diesem Blog mehrmals kommentiert habe.