Damit die grosse Inszenierung eines wunderbaren Werkes am Abend auch tatsächlich gelingt, braucht es unter der Bühne die Person, die fürs Publikum möglichst unsichtbar bleibt: die Souffleuse. Sie spielt in jeder Aufführung eine Haupt-Nebenrolle.
«Ich hab’ den besten Platz im Ring», sagt Heike Behrens und zwängt sich vor der hintersten Rückwand des Orchestergrabens zu einer schmalen Hühnerleiter. Dort klettert sie abends hinauf, installiert sich auf einem engen, aber wohlgepolsterten Sitz – und hat freie Sicht auf die gesamte Bühne. Kein Sitznachbar rechts, keiner links und vor sich der «Ring des Nibelungen», Richard Wagners Gesamtkunstwerk. Sechzehn Stunden Musik, aufgeteilt auf vier Tage.
Der «Ring» ist eine Herausforderung für Dirigenten, Sänger und Sängerinnen und alle anderen, die damit zu tun haben. Insbesondere wenn er wieder einmal komplett in allen vier Teilen aufgeführt wird. Wie jetzt in Zürich. Live auf der Bühne und als Streaming für alle.
Heike Behrens ist Souffleuse. Oder, wie man heute korrekt sagt: «Maestra Suggeritrice». Denn Heike Behrens leistet weit mehr als vergesslichen Sängern lediglich den Text einzuflüstern, wenn sie während der Vorstellung nicht weiterwissen. Sie ist buchstäblich der verlängerte Arm des «Maestro», des Dirigenten.
Aber jetzt ist noch Vormittag. «Rheingold» läuft erst am Abend, Heike Behrens hat noch Zeit. «Ich bin zwar keine verrückte Wagnerianerin, aber ich liebe diese Musik», sagt sie. «Diese Musik fühlt sich an, die hört sich nicht nur an. Als ich vor Jahren in Düsseldorf ganz unvoreingenommen in einer Probe der ‘Walküre’ sass, war ich wie vom Schlag getroffen. Was ist das für Musik, dachte ich. Was sind das für grosse, starke Frauen! Und ich wusste: Das ist es! Es hat mich total infiziert.»
Auf Umwegen zu Wagner
Zu diesem Zeitpunkt hat sie noch in der Kostümabteilung gearbeitet. Als Kind hatte sie zwar eine musikalische Früherziehung genossen, ein Klavier oder eine Geige zu kaufen, lag aber zuhause nicht drin. «So habe ich eine Schneiderlehre gemacht und bin in Hamburg an die Staatsoper gegangen, weil ich das interessanter fand, als in einem kleinen Atelier zu arbeiten.»
Von Hamburg kam sie nach Düsseldorf an die Deutsche Oper am Rhein, wo sie diese schicksalhafte Begegnung mit Wagners «Walküre» hatte. Um noch ein Instrument zu lernen, war es Mitte zwanzig schon zu spät. Aber jemand riet ihr, Gesangsstunden zu nehmen, «dann bist du auch in der Musik». Gesagt, getan. Das lief zwar gut, aber Behrens hatte ein Problem: Auf der Bühne zu stehen und vor fremden Leuten zu singen, das wäre für sie ein Graus.
Aber auch als Schneiderin war sie immerhin im Theater, konnte bei Proben zuschauen und Gleichgesinnte kennenlernen. Wagner-Fans! Und die schwärmten von Bayreuth. «Allerdings gab es damals, Anfang der Neunzigerjahre, kaum Karten, dafür jahrelange Wartelisten. Aber wenn man dort arbeite, bekomme man Karten für die Generalproben, sagte mir jemand. Also habe ich mich dort beworben und zwei Sommer in der Kostümabteilung gearbeitet, um dann ganz oben in der Galerie auf den schlechtesten Plätzen die Generalproben zu sehen. Das war herrlich!»
Heike Behrens’ Gesangslehrerin schlug ihr dann vor, Souffleuse zu werden, weil sie doch mit den Werken schon vertraut sei. «So wurde ich in zwei Proben und eine Vorstellung geschmissen, und die Sänger waren zufrieden. So bin ich Souffleuse geworden. Aber es ist kein Lehrberuf. Man lernt, indem man’s tut.»
In Italien seien es vor allem angehende Dirigenten, die oft «im Kasten sitzen», von daher komme der Begriff «Maestro Suggeritore», der auch in Zürich verwendet wird. Denn eigentlich dirigiere man aus dem Kasten heraus. Nicht das Orchester, aber das gesamte Gesangsensemble auf der Bühne, vor allem natürlich die grossen Stars, die sich keinesfalls blamieren wollen.
Der Kasten, beziehungsweise die Person darin ist also etwas ähnliches wie der Prompter für Fernsehmoderatoren. Denn – anders als der Laie denkt – ist es nicht in erster Linie der berühmte Dirigent, der das singende Personal auf die Rolle im Stück einfuchst, es ist der Maestro Suggeritore, gemeinsam mit dem Korrepetitor.
«So war es jetzt auch im ‘Ring’. Maestro Noseda leitete die Orchesterproben, während ich parallel mit den Sängern die szenischen Proben machte. Dann kommt es auf der Bühne zusammen. Ich sitze also genau dazwischen und bin so eine Art Bindeglied. Das hilft nicht nur den Sängern, sondern vor allem auch dem Dirigenten, der hunderte Einsätze im Orchester zu geben hat, den ganzen Abend leiten und alles im Blick behalten muss. Da kann er nicht auch noch jeden Einsatz für die Sänger geben.»
Die Tücken des Textes
Eine echte Herausforderung. Zumal so ein Ensemble auf der Bühne ziemlich international zusammengewürfelt ist und Wagners Texte lang und eigenwillig sind. Da kann es durchaus mal holpern. «Das hat aber gar nichts mit der Nationalität zu tun», wirft Heike Behrens ein. «Manche Sänger sind sehr gut darin, solche Texte phonetisch zu lernen. Sie sprechen kein Wort Deutsch, aber ihr Deutsch auf der Bühne ist derart gut, dass niemand glauben würde, dass sie die Sprache nicht beherrschen.»
Daneben gibt auch immer wieder deutsche Sänger, die den Text viel weniger beherrschen als Fremdsprachige. Häufig werden aber auch Sprechübungen für Nicht-Deutschsprachige gemacht. «Bei slawischen oder russischen Sängern üben wir die klaren Vokale. Bei Amerikanern ist es die Zunge, bei der das ‘L’ nach hinten flippt oder das ‘R’, das man nach vorn bekommen muss. Das passiert vor allem bei Neuproduktionen, da hat man sechs Wochen Probezeit. Jetzt, bei der Wiederaufnahme des gesamten Rings muss es zack, zack gehen. Deshalb wurde ich wohl dafür eingeteilt, weil ich den Ring sehr oft gemacht habe.»
Neben mehreren «Ring»-Zyklen in Düsseldorf und Berlin, hat Heike Behrend auch fünf Jahre in der Wagnerhochburg Bayreuth gearbeitet und den «Ring» souffliert. Dort, wo das Orchester unter der Bühne spielt, gibt es kaum eine Verbindung vom Dirigenten zu den Sängern. Aber genau dort hat sie Erfahrungen gesammelt, die ihr jetzt auch im Zürcher Ring wieder zugutekommen. Den «Ring» hat sie intus.
Musikalische und psychologische Unterstützung
Als Zuschauer geht man ja davon aus, dass die Maestra Suggeritrice Sängern und Sängerinnen bei Gedächtnislücken den Text zuflüstert. Aber eben, es geht weit darüber hinaus. «Die Sänger sind in der schwierigsten Position», erklärt Behrens. «Jeder, der an einer Produktion beteiligt ist – ob ich das bin, der Dirigent, der Inspizient –, wir alle haben die Noten und können reinschauen. Die Sänger nicht. Und sie müssen auch noch spielen, in einer anderen Sprache singen, sie werden durch Scheinwerfer beleuchtet und hören das Orchester schlecht.»
«Aber gerade die Sängerinnen und Sänger sind es, die vom Publikum am meisten beurteilt werden, sie sind die Protagonisten. Für sie sind wir da, auch als eine Art Auffangnetz, als psychologische Hilfe, wenn etwas schiefgeht. Wir sagen: Alles gut! Weitermachen! Manchmal geht auch im Orchester was schief, eine Oboe setzt einen Takt zu früh ein, der Sänger will singen, und wir zeigen sofort die Hand: Halt! Noch nicht, sonst fliegt alles auseinander. Wenn man da nicht reagiert, singt auch der nächste falsch und es potenziert sich, während die Musik nicht stoppt, sondern weiterspielt.»
Da hilft Heike Behrens ihre Erfahrung. Und dadurch, dass die Sänger sie schon von den Proben her kennen, vertrauen sie ihr. Schon bei den Proben spürt sie, wo es während der Vorstellung für den einen oder die andere knifflig werden könnte. «Andererseits gibt es auch Sänger, die sich während der Probe schwertun und auf der Bühne blühen sie auf! Oder das Gegenteil: Wenn jemand auf der Bühne nervös wird. Da muss man ein bisschen Einfühlungsvermögen haben, schnell reagieren und ruhig bleiben.»
Handzeichen schaffen Klarheit, hiess es früher bei der Verkehrsschulung, und das gilt auch zwischen Souffleurkasten und Bühne. «Ja», bestätigt Heike Behrens und lacht. «Christian Thielemann, mit dem ich viel gearbeitet habe, hat den Begriff ‘Verkehrspolizei’ dafür geprägt. Er hat mir vertraut und ich ihm. ‘Mach du die Verkehrspolizei’, sagte er zu mir, ‘dann kann ich unten im Orchester schön die Dynamik machen’. Gerade in Bayreuth, wo der Dirigent unter der Bühne sitzt und die Sänger immer zu spät hört.»
Wenn es allein um den Text geht, wie macht sie es dann? Wie laut darf das Flüstern sein? «Lauter als ich jetzt mit ihnen spreche», sagt Heike Behrens in klarem Ton. «Ich versuche möglichst tief und möglichst rhythmisch zu sprechen. Ich schreie nicht, bin aber laut. Schliesslich muss ich rund 80 Musiker übertönen. Manche Sänger möchten den ganzen Text haben. Sie haben die Rolle vielleicht länger nicht mehr gesungen, oder es ist das erste Mal oder sie sind kurzfristig eingesprungen.»
Pech und Pannen
Aber natürlich ist niemand gegen Pleiten, Pech und Pannen auf der Opernbühne gefeit. «Oha ja», bestätigt Heike Behrens. «Das war nicht in Zürich, aber wir hatten mal in einer ’Salome’ einen Sänger, der schlecht vorbereitet war. Schon in der Probe war es brenzlig, in der Vorstellung habe ich ihm den Text laut zugeschrien, er wusste aber nicht weiter, ist ausgestiegen und von der Bühne weggelaufen. Das Orchester spielte weiter, die Salome sass vor meinem Kasten und machte nur noch grosse Augen, sie wusste, dass sie als Nächste singen musste, aber wann? Da dachte ich: Jetzt singe ich es aus meinem Kasten heraus, ziemlich laut, der Dirigent sagte nur noch pfffff und liess schneller spielen …» Es muss chaotisch gewesen sein. Heike Behrens ist ausser Atem, wenn sie nur schon davon erzählt. «Es war ein Super-Gau damals, und das Publikum hat gebuht.» Ein anderes Mal habe ein Sänger den Faden verloren und Arien aus einer anderen Oper gesungen.
Und dann gibt es auch die Sternstunden, wenn alles ganz wunderbar läuft. «Ja, das überträgt sich dann auch aufs Publikum, und es müssen nicht mal jene Vorstellungen sein, in denen alles glattläuft.»
Seit dreizehn Jahren ist Heike Behrens nun am Zürcher Opernhaus Maestra Suggeritrice. «Es ist ein Privileg, hier arbeiten zu können», sagt sie. «Die Arbeitsbedingungen sind im Vergleich mit vielen anderen Häusern in Deutschland oder anderen Ländern viel besser. Dafür bin ich jeden Tag dankbar.» Und dass es nun wieder einmal der «Ring» ist, freut sie besonders. Jeder bisherige «Ring» war anders und sie lerne immer wieder etwas Neues dabei, sagt sie. «Ich denke, auch Wagner würde es heute vielleicht mit den Tempi oder Übergängen anders machen als seinerzeit. Und natürlich hat man einen persönlichen Geschmack. Es ist auch ein Unterschied, ob ich den ‘Ring’ mit Thielemann oder Barenboim erarbeite, die den ‘Ring’ schon hundert Mal gemacht haben, oder mit jemandem, der es zum ersten Mal macht.»
Die Herausforderung des «Rings» in Zürich und unter Gianandrea Noseda war es, Wagners Musik auch in einem kleinen Haus wie Zürich transparent zu halten. «Die Akustik auf dieser Bühne ist für die Sänger grossartig, aber sie reflektiert das Orchester. Es war eine wahnsinnige Arbeit, den Klang so transparent hinzukriegen, wie Maestro Noseda es wollte», sagt sie. «Heute bin ich froh, dass ich nicht mehr die Jüngste bin und meine Erfahrungen einbringen kann. Jüngere Sängerinnen und Sänger sind manchmal unsicher, aber ich kann ihnen mit Text und meinen Handzeichen helfen. Diesen Aspekt geniesse ich.»
Und à propos geniessen: Wie unbequem ist es denn so stundenlang im Kästchen? «Das kommt aufs Kästchen an», sagt sie und lächelt ein bisschen zweideutig. «Erst sollte ich wegen des Bühnenbildes nicht in den Kasten, das hat sich aber bei ‘Siegfried’ und der ‘Götterdämmerung’ als unpraktisch erwiesen. Jetzt ist es eine 80x80-Kiste, der Kopf guckt oben raus, ich habe Polster auch für die Arme. Und wenn ich erst mal drin bin, dann habe ich den besten Platz!»
Sagt’s und klettert in den Kasten.
Opernhaus Zürich: «Ring des Nibelungen»
Ab 18. Mai live aus dem Opernhaus:
https://www.opernhaus.ch/2324/ring-fuer-alle/