Faktisch hatte Fidel Castro bereits im Jahre 2006 auf alle seine Ämter verzichtet, real hat erst der nach 14 Jahren Unterbruch wieder stattfindende 6. Parteitag der einzigen legalen politischen Kraft auf Kuba das Ende einer Ära vollzogen. Der Comandante en Jefe Fidel Castro ist nicht mehr 1. Sekretär der kommunistischen Partei Kubas.
Erneuerung sieht anders aus
An seiner Stelle übernimmt sein Bruder Raúl Castro (79) dieses Amt, die neue alte Nummer zwei in der Hierarchie ist Ramon Machado Ventura (80), einer der letzten Überlebenden der historischen Generation von Revolutionären, die aktiv am Sieg gegen die Batista-Diktatur im Jahre 1959 teilgenommen hatten. Das neu von 19 auf 15 Mitglieder verschlankte Politbüro lässt auch nicht erkennen, wer allenfalls als Nachfolger der alten Garde der Revolutionäre in den Startlöchern stehen könnte.
Die Erfolge von rund 50 Jahren Castro-Regime sind beeindruckend. Anderthalb Generationen lang sozialer Friede, keine Bürgerkriege, keine Todesschwadronen, kein einziger Oppositioneller wurde in all den Jahren als verstümmelte Leiche in einem Strassengraben aufgefunden, Gesundheit und Bildung gratis für alle, eine niedrigere Kindersterblichkeit und Analphabetenrate als in den USA, und am wichtigsten: Den Nachfahren von Sklaven, den Entrechteten und Erniedrigten wurde Menschenwürde gegeben. Errungenschaften, die in ganz Lateinamerika bis heute in dieser Form einzigartig sind.
Wenn der Satz von Bertolt Brecht: «Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral», heute noch Gültigkeit hat, dann ist die Bilanz der kubanischen Revolution unbestreitbar positiv. Eine Diktatur, die zweifellos immer nur das Beste für alle wollte, dabei aber so vieles so schrecklich falsch gemacht hat, den erzwungenen Verzicht auf persönliche Freiheit, auf politische Meinungsbildung, auf das Recht auf Opposition mit sozialen Errungenschaften versüsste, die ausserdem eine im lateinamerikanischen Kontext passable Menschenrechtsbilanz vorzuweisen hat (selbst nach Statistiken von Amnesty International gibt es nicht mehr als rund 200 politische Gefangene auf Kuba, und alle überleben die Haft), das alles macht es schwierig, das System für gescheitert zu erklären. Wenn nicht die vermaledeite Tatsache wäre, dass die Grundlage jegliches menschlichen Zusammenlebens, die Wirtschaft, eine helle Katastrophe ist.
Ein grandioses Scheitern
Gerne erinnern wir uns an die Anekdote, dass Che Guevara Präsident der kubanischen Nationalbank wurde, weil er die Frage, ob es einen «Economista» unter den siegreichen Revolutionären gebe, missverstand, und auf die vermeintliche Frage, ob es einen «Marxista» gebe, brav die Hand hob. Unermüdlich, die Fähigkeit Fidel Castros imitierend, problemlos einige Tage ohne Schlaf auskommen zu können, liess sich Guevara dann in nächtlichen Unterrichtsstunden in die Welt der Aufgaben einer Nationalbank einführen.
Und auch Fidel Castro, von Haus aus Sohn eines Grossgrundbesitzers, von der Ausbildung her ein Anwalt und von Berufung bewaffneter Guerillero, musste zur Kenntnis nehmen, dass es eine Sache ist, militärisch einen Diktator zu besiegen, aber eine ganz andere, die Verantwortung für das Wohlergehen einer ganzen Nation zu übernehmen.
Bis 1990 profitierte die kubanische Revolution vom Kalten Krieg, Kuba ist wohl das einzige Drittweltland, das wirklich und real Entwicklungshilfe in Multimilliardenhöhe vom ehemaligen Ostblock bekam. Und nach dreissig Jahren als Revolutionsführer kämpfte und gewann Fidel Castro wohl seine grösste Schlacht, als er die Insel durch den Untergang des sozialistischen Lagers steuerte, ohne dass sie unterging.
Und weitere zwanzig Jahre später, in denen unzählige Male die letzten Tage, Stunden, Minuten der Castro-Diktatur heruntergezählt wurden, beherrscht die Kommunistische Partei Kubas unbestreitbar die letzte Insel des real existierenden Sozialismus, und ein Ende ihrer Macht ist nicht absehbar. Aber zu welchem Preis. Kuba ist faktisch pleite, ausstehenden Schulden in der Höhe von geschätzten 30 Milliarden Dollar gegenüber dem ehemaligen Ostblock werden ergänzt durch neue Schulden in der Höhe von weiteren 15 Milliarden Dollar gegenüber westlichen Gläubigern.
Eine Revolution ohne Revolution
Obwohl sich Raúl Castro in seinen Reden am 6. Parteitag so kritisch über begangene Fehler äusserte, dass dafür jeder Oppositionelle auf Kuba in den Knast wandern würde, obwohl Massenentlassungen im Staatssektor abgesegnet wurden, obwohl mehr als 170 freie Berufe zugelassen werden, obwohl erstmals der freie Handel mit Besitztümern wie Autos oder Häusern legalisiert wird, ist die klare Ansage des Parteitags: Nur, wenn wir nichts ändern, bleibt alles, wie es ist. Wir akzeptieren zwar zähneknirschend, dass private Initiative, Kleinunternehmertum möglich ist und erlauben sogar, dass private Firmen Angestellte beschäftigen dürfen, eigentlich ein Sakrileg an der reinen Lehre des Sozialismus, aber wir halten daran fest: Nur eine zentral gelenkte Planwirtschaft, ergänzt durch eine Einparteiendiktatur, garantiert einen Fortbestand des Systems mitsamt seinen Errungenschaften.
Wie dies allerdings, ausser durch weitere Schulden, finanziert werden können, darauf bleiben wir die Antwort schuldig. Statt einzusehen, dass ein System, um nur eine Zahl zu nennen, gescheitert ist, das auf einer fruchtbaren tropischen Insel mehr als 80 Prozent der Nahrungsmittel importieren muss, obwohl Kuba vor der Revolution Exporteur von landwirtschaftlichen Produkten war, siegt die Ideologie einmal mehr über die Realität.
Die ewigen billigen Entschuldigungen
Das Handelsembargo der USA, die unzähligen Versuche von inzwischen zehn US-Präsidenten, diesen Stachel im Fleisch der amerikanischen Hegemonieansprüche im Hinterhof Lateinamerika loszuwerden, die Notwendigkeit, imperialistischen Ansprüchen der ehemaligen Kolonialmacht USA geeint und ohne innere 5. Kolonne zu widerstehen - kein Kubaner erträgt mehr die Litanei der ewiggleichen Entschuldigungen für eigenes Versagen nach mehr als 50 Jahren Revolution.
Aber kein Kubaner, der noch alle Tassen im Schrank hat, möchte stattdessen Chaos, eine Rekolonialisierung durch das Imperium im Norden oder gar eine Rückkehr der Exilkubaner, die Anspruch auf ihre nationalisierten Latifundien, Fabriken, Herrschaftshäuser und Privilegien erheben würden. Also eine tragische Situation: So, wie es ist, kann es nicht bleiben. Aber alle Alternativen wären noch schlimmer.
Alles eine Frage der Perspektive
Die Kuba-Kenner ausserhalb der Insel teilen sich deswegen in zwei deutlich unterscheidbare Lager. Auf die apodiktische Frage der Machthaber in Kuba: Bist du für uns oder gegen uns, sind nur zwei Antworten möglich, wenn man sie akzeptiert. Revolutionsnostalgiker und Träger von Che-Guevara-Shirts entscheiden sich für ein Ja, Bedenkenträger und Anhänger der freien Marktwirtschaft wählen ein Nein. Kuba selbst, was von den meisten aussenstehenden Beobachtern schwer unterschätzt wird, kümmert sich einen feuchten Kehrricht um solche Ratschläge.
Exilkubaner von einem Gewicht wie Guillermo Cabrera Infante oder Jesús Días oder abgefallene Revolutionäre wie Eloy Guitiérrez Menoyo oder gar Carlos Franquí, europäische Intellektuelle wie Hans Magnus Enzensberger oder Jean-Paul Sartre, die sich alle zuerst für die Revolution begeisterten und sie anschliessend scharf kritisierten, hilfsbereite NGOs und Freundschaftsgesellschaften oder Anhänger der Unterstützung von Oppositionsbewegungen: Die alte Garde hat gelernt, dass die Karawane weiterzieht, ob die Hunde bellen oder Zustimmung jaulen. Aber eine Oase als Ziel in der kubanischen Wüste ist leider nicht erkennbar.