Er ist einer der Grossen im internationalen Pianistenzirkus. Als er auf dem Podium des Konzertsaals im KKL Luzern erscheint, wirkt er demütig, ein wenig gebeugt, ganz in Schwarz, eher ein französischer Lehrer vom Land als ein Weltstar. Das Haar etwas zerzaust, das Stehkragenhemd über den Jeans, an den Füssen bequeme Sneakers – so macht sich Pierre-Laurent Aimard ans Werk. Er setzt sich an den Flügel und wartet, bis das allerletzte Husten, Räuspern und Knacksen im Saal verstummt ist.
Das Werk, das nun vor ihm liegt und ihm während zweier Stunden äusserste Konzentration abverlangen wird, hat der Dirigent Hans von Bülow «das Alte Testament der Klaviermusik» genannt – als Vorläufer und Gegenpol zu Beethovens Klaviersonaten, in denen er das Neue Testament sah. 1722 schrieb Johann Sebastian Bach den ersten Zyklus von 24 Präludien und Fugen für alle zwölf Dur- und Moll-Tonarten ins Reine. Er gab der Sammlung eine pädagogische Zweckbestimmung: «Zum Nutzen und Gebrauch der lehrbegierigen musikalischen Jugend,» stand auf dem Titelblatt. Doch das war gewaltig untertrieben.
Vorstoss in den Kosmos der Harmonik
Bach explorierte mit diesen 48 Stücken auf bisher nie dagewesene Art das gesamte System der Harmonik. Erst mit der zu seiner Zeit gebräuchlich gewordenen «temperierten» oder «schwebenden» Stimmung war es möglich, in allen Tonarten zu spielen. Diese neue Dimension schöpfte Bach mit dem Wohltemperierten Klavier aus. Der chromatische Gang von C-Dur bis h-Moll erzeugt unter seinen Händen einen Kosmos des musikalischen Ausdrucks. Ein unfassbarer Reichtum an kompositorischen Erfindungen, an harmonischen Entwicklungen, an Verarbeitung von Themen, an musikalischen Emotionen entspringt der strengen Versuchsanordnung.
Den modernen Konzertflügel gab es zu Bachs Zeit nicht; es ist denn auch keineswegs selbstverständlich, seine Werke auf diesem Instrument zu spielen. Trotzdem hat sich gerade beim Wohltemperierten Klavier der Flügel durchgesetzt, weil er dank seiner Klangfülle die ausgefeilte Harmonik besonders zur Geltung bringt. Doch neben der reinen musikalischen Struktur legt der Notentext fast gar nichts fest: Es gibt keine Tempoangaben, keine Vorschriften zur Dynamik, kaum Phrasierungen und Verzierungen. Der Interpret ist – wie bei Kompositionen aus dieser Epoche üblich – frei in der Gestaltung.
Die Herausforderung des Einfachen
Künstlerische Freiheiten dieser Grössenordnung stellen gewaltige Anforderungen, sowohl wegen der buchstäblich uferlosen Variablen der Interpretation wie auch wegen des Ranges dieser Musik. Seit es Tonaufzeichnungen gibt, haben fast alle Berühmtheiten der Pianistenzunft mindestens einzelne Stücke aufzeichnen lassen; auch die Reihe der Gesamteinspielungen ist eindrucksvoll. Entsprechend gross ist die Variationsbreite der vorliegenden Interpretationen.
Glenn Gould zum Beispiel brach die Phalanx des weihevollen Bachspiels auf mit kühnen, manchmal exaltierten Lesarten. András Schiff zeigt nochmals einen neuen Bach mit einer agilen, «sprechenden» Musik. Wieder anders Angela Hewitt: Sie bringt Artikulation und Klang, wie auch Gedanklichkeit und Gefühl zur Balance und tritt als Interpretin gewissermassen hinter die Komposition zurück.
Dies und noch viel mehr steht im Raum in dem Moment, da Pierre-Laurent Aimard in gesammeltem Schweigen am Flügel sitzt und langsam die Hände auf die Tasten legt. Der Einstieg in das gewaltige Werk bietet eine ganz besondere Schwierigkeit, weil das erste Präludium von einer kaum zu überbietenden Einfachheit ist. Jeder halbwegs begabte Klavierschüler kann es spielen, alle haben es im Ohr. Charles Gounod hat es zum Ave Maria verkitscht und zum Gassenhauer gemacht.
Das C-Dur-Präludium besteht nur aus arpeggierten Akkorden und entwickelt mit ihnen eine Folge von einfachen Modulationen. Damit führt es aber bereits die Elemente vor, aus denen der Kosmos des Wohltemperierten Klaviers besteht. Das erste Präludium enthält quasi schon das ganze Werk, und genau darin liegt die Herausforderung dieses Einstiegs.
Aimard wählt eine überraschende Lesart: langsam, lyrisch, viel Rubato, kleine Dramatisierungen, ausgekostete Klangschönheit. Und alles, was er in dem kleinen ersten Stück an interpretatorischen Versprechungen andeutet, wird in der Folge der weiteren 47 Stücke aufs Eindrücklichste mit der ganzen Spannweite pianistischer Ausdrucksmöglichkeiten eingelöst. Aimard taucht ein in die Musik, lotet die Charaktere der einzelnen Stücke aus, macht das Filigrane luzid, das Prachtvolle überwältigend, das Ruhende tief und das Vorwärtsstürmende virtuos. Dabei verliert er das Ganze nicht aus dem Blick. Rasche Übergänge oder längere Atempausen zwischen den Stücken hier, bewusste Reminiszenzen an bereits gehörte Artikulationen dort schaffen Strukturen und Verbindungen.
Schlüsselwerk
Über die Bezüge zwischen den 48 Stücken und nur schon in den jeweiligen Paaren von Präludien und Fugen ist ohne Ende (und auch ohne klare Ergebnisse) theoretisiert und spekuliert worden. Angesichts der Entstehung zumindest des ersten Buches des Wohltemperierten Klaviers – es ist eine teils bearbeitete und geringfügig ergänzte Sammlung von Stücken, die zu verschiedenen Zeiten entstanden – sind hinsichtlich der Gesamtanlage keine «verborgenen Botschaften» zu erwarten.
Um so mehr ist die musikgeschichtliche Schlüsselstellung des Werks zu beachten: Es definiert nicht nur die harmonischen Räume, in denen sich Klassik, Romantik und Moderne bewegen, sondern es ist auch der Urtyp der absoluten Musik, jener «reinen» Kunstmusik also, die weder einem höfischen noch einem kirchlichen Zeremoniell dient, keine szenisch-darstellerische Funktionen hat, nicht zum Tanz aufspielt oder den Marsch bläst, kurz: keinerlei dienende Funktion hat.
Soll man diese Schlüsselstellung hören, wenn das Wohltemperierte Klavier gespielt wird? – Im KKL war sie mindestens zu ahnen. Aimard hat ausgebreitet, was mit dieser Erfindung der absoluten Musik in die Welt gekommen ist. Es ist nicht weniger als das hörbare Schöne. Dieser französische Lehrer in seinen schwarzen Klamotten mit den billigen Latschen, dieser etwas linkische Typ ist, wenn er am Flügel sitzt, ein Magier des Klangs. Er lässt das Wohltemperierte Klavier klingen und füllt den grossen weissen Saal des KKL mit der Dichte dieses Werks.
Bezwingung des Achttausenders
Jedes der 48 Stücke hat seinen Charakter. Es gibt unter ihnen luftige Gebilde und schwere Brocken, lyrisch zarte und rasant antreibende Kompositionen, durchsichtigen Zierrat und prachtvolle Architekturen. Das Werk an einem Abend zu spielen, ist wie die Bezwingung eines Achttausenders im Alleingang.
Beim letzten Präludium h-Moll machen sich denn auch ein paar kleine Anzeichen von Konzentrationsschwäche bemerkbar. Es ist ein langes gleichförmiges Stück ohne technische Klippen, aber schwierig zu gestalten. Da gibt es plötzlich Momente, in denen die Intensität abfällt. Doch Pierre-Laurent Aimard mobilisiert seine Energien und baut die Erwartungsspannung auf das abschliessende Stück hin nochmals auf.
Und es gelingt: Er formt die grosse Fuge zum überwältigenden Monument. Als der in H-Dur aufgelöste Schlussakkord verklingt, bleibt Aimard lange sitzen, die Hände auf den Tasten. Bestimmt zwei Minuten dauert das. Im vollbesetzten Saal herrscht absolute Stille. Erst als er sich langsam löst und aufsteht, bricht der Applaus los.