Die Rede des Präsidenten der Vereinigten Staaten zur Lage der Union ist ein jährliches Ritual, mehr Show als Substanz, mehr Rauch als Feuer. Niemand möchte sie missen, so wie die Folge einer populären Fernsehserie, obwohl zum Voraus bekannt ist, was das Publikum zu erwarten hat.
Der Amtsinhaber spricht, und der Kongress sowie Millionen am Bildschirm hören zu. Die Rhetorik fliegt hoch, und der amerikanische Traum erwacht. Und zumindest nach aussen herrscht Eintracht im Saal: Präsident, Senatoren, Abgeordnete und Oberste Richter, dunkel gewandet, versammelt unter der Kuppel des Kapitols; Exekutive, Legislative und Justiz vereint im Wissen um die eigene Macht.
Show mit ritualisierter Politik
Parlamentarier aus der Partei des Präsidenten applaudieren oft und enthusiastisch, jene der gegnerischen Partei verharren stumm und trotzig. Mit Ausnahme jenes republikanischen Abgeordneten, der Barack Obama 2008 während der Rede als «Lügner» beschimpfte, als er erklärte, illegale Einwanderer seien von den Segnungen der Gesundheitsreform ausgeschlossen.
Auf der Galerie sitzen, als Gäste der eleganten First Lady, verdiente Individuen, auf die der Redner kurz verweist, während die Objektive der TV-Kameras auf sie zoomen. Für Betroffene, Komparsen im grossen Polit-Theater, sind es Andy Warhols «15 Minuten des Ruhms», ist es ein kurzes Auftauchen aus der Masse des Volkes, um dann erneut vergessen zu gehen.
Der Präsident weiss, und seine Gegner wissen, dass nur wenig von dem, was er in der Rede zur Lage der Nation auflistet oder verspricht, je Realität werden wird. Im jüngsten Fall hat Barack Obama unter anderem vorgeschlagen, Steuerschlupflöcher für Reiche zu schliessen, Jungen eine kostenlose Berufsschulausbildung zu ermöglichen, Familien mit Steuererleichterungen zu unterstützen und 43 Millionen Arbeitenden zu erlauben, krank zu sein, ohne Lohneinbussen befürchten zu müssen.
Sollten so hehre Initiativen je Gesetz werden, müssten ihnen beide Häuser des Kongresses zustimmen. Was aber höchst unwahrscheinlich ist, befinden sich doch der Senat und das Abgeordnetenhaus seit den Zwischenwahlen vom vergangenen Herbst fest in Händen der Republikaner. Da dürfte es Barack Obama nur wenig helfen, dass seine Beliebtheit dank des Aufschwungs der amerikanischen Wirtschaft wieder steigt.
Wirtschaftspolitik als Erfolgsstory
So war es wohl kein Zufall, dass der Präsident 25 Minuten seiner einstündigen Rede dem Thema Wirtschaft widmete. Für die Aussenpolitik blieben lediglich zehn Minuten und – nach den Vorfällen In Ferguson (Missouri) und Staten Island (New York), wo Schwarze Opfer weisser Polizeigewalt wurden – für Fragen der Rassenbeziehungen nur noch eine Minute, was etliche Liberale enttäuscht haben dürfte.
A propos Wirtschaft wies Barack Obama stolz darauf hin, dass in den USA in den vergangenen fünf Jahren elf Millionen Stellen geschaffen worden sind und die Löhne zu steigen beginnen. Gleichzeitig, so der Präsident, sei das Defizit gesunken: 2014 im Vergleich zum Vorjahr um 200 Milliarden auf 483 Milliarden Dollar, was 2,8 Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts entspricht.
Den Leitartiklern der «New York Times» gefiel das Gesagte. Barack Obama, so schrieben sie, habe es vorgezogen, eine einfache, dramatische Botschaft über wirtschaftliche Fairness auszusenden, «über den Umstand, dass es den Wohlhabenden – den Spitzenverdienern, den grossen Banken, Silicon Valley – sehr gut gegangen ist, während die Mittelklasse und die Arbeiterklasse reglos verharren. Seine Remedur: Schöpfe bei den Reichen ab und verteile es nach unten, während du gleichzeitig noch Massnahmen triffst, um die Löhne anzuheben und mehr Stellen zu schaffen.» Republikaner indes nannten die Botschaft des Präsidenten nicht «einfach», sondern «naiv».
Unangenehmes ausgeblendet
Punkto Aussenpolitik fasste sich Barack Obama eher kurz. Er erklärte den Krieg in Afghanistan für beendet und versprach, Isis «zu schwächen und letztendlich auszulöschen». Er verteidigte den Entscheid des Weissen Hauses, sich Kuba diplomatisch anzunähern, und warnte vor weiteren Sanktionen gegenüber dem Iran, um den Ausgang der Atomgespräche nicht zu gefährden: «Wir führen am besten, wenn wir militärische Macht mit starker Diplomatie verbinden, wenn wir unsere Macht einsetzen, um Koalitionen einzugehen, wenn wir uns von Ängsten nicht blenden lassen gegenüber den Gelegenheiten, die das neue Jahrhundert bietet.»
Der Präsident forderte ausserdem neue Gesetze, um die USA besser vor Cyberattacken schützen zu können: «Keine fremde Nation, kein Hacker sollte je unsere Netzwerke lahmlegen, unsere Handelsgeheimnisse stehlen oder in die Privatsphäre amerikanischer Familien, insbesondere jene der Kinder, eindringen können.»
Einem Kommentator der «Washington Post» missfiel, dass sich Barack Obama kaum zum Thema Terrorismus äusserte, «den Herausforderungen jenseits unserer Künsten». Zwar bekundete der Präsident seine Anteilnahme mit den Opfern des Terrors, «von einer Schule in Pakistan bis zu den Strassen von Paris». Doch er versprach nicht viel mehr, als weiterhin Terroristen zu jagen und ihre Netzwerke aufzurollen.
«Nie seit der Zeit vor den Terroranschlägen von 9/11 hat sich so ein breiter Graben aufgetan zwischen der Blickrichtung der Nation und dem Zustand der Welt», folgerte die «Post»-Kolumnist Dana Milbank: «Während die Bedrohung im Nahen Osten und in Europa wächst, hat Präsident Obama (…) eine jährliche Botschaft an den Kongress abgeliefert, die entschieden innenpolitisch war. Und sein Blick nach innen wird von Parlament und Bevölkerung geteilt.» Hatten im Oktober 2001 noch 46 Prozent aller Amerikaner den Terrorismus als grösste Gefahr für die Nation eingestuft, tun das heute lediglich noch zwei Prozent.
Übertünchte Spaltung
Am Ende des «State of the Union» darf jeweils ein Mitglied der Opposition dem Präsidenten antworten, wobei die Stossrichtung der Replik schon feststeht, bevor der Präsident gesprochen hat. Heuer fiel die Aufgabe Joni Ernst zu, einer neuen Senatorin aus Iowa, die nicht müde wurde, das Publikum an ihre abenteuerliche Jugend auf einer Schweinefarm und ihren ehrenvollen Militärdienst im Irak zu erinnern.
Die Quintessenz ihrer Ausführungen? «Wenn wir zusammenarbeiten, können wir eine Menge erreichen.» Das aus dem Munde der Vertreterin einer Partei, die in der Vergangenheit fast alles unternommen hat, um die Arbeit des Präsidenten bei jeder Gelegenheit u sabotieren. Barack Obama nannte die Republikaner in seiner Rede «the Party of No» – die Partei der Neinsager.
Hübsch karikiert Satiriker Andy Borowitz im «New Yorker» die jüngste Rede zur Lage der Nation und den steten Widerstand der Republikaner. Präsident Obamas Entscheid, in Washington DC «vor Extremisten aufzutreten», lade zu Kontroversen ein: «Erst 2013 zum Beispiel drohten die Extremisten, die ganze Bundesregierung lahmzulegen, falls ihre Forderungen nicht erfüllt würden.» Doch das Weisse Haus habe den Entschluss des Präsidenten verteidigt, vor Extremisten zu sprechen, und darauf hingewiesen, «dass die Regierung auch einen Dialog mit dem Iran und mit Nordkorea initiiert hat.»