Nun steht es also fest. Der Bundesrat bricht die Verhandlungen zum Rahmenabkommen mit der EU ab. Schluss. Aus. Fertig.
Niemandem blieb in den vergangenen Wochen und Monaten verborgen, dass im politischen Raum zwischen der SVP (klar kontra) und den Grünliberalen (klar pro) die Bedenkenträger aller Parteien stets lauter, die Absatzbewegungen immer deutlicher wurden.
Beim Freisinn, dem Rahmenabkommen anfänglich durchaus gewogen, scherten plötzlich diese und jene National- und Ständeräte aus, die klare Haltung verlor sich in tausend Wenn und Aber. Von einer Wirtschaftspartei, die Wert darauf legen müsste, den Austausch mit dem wichtigsten Handelspartner längerfristig auf eine solide und berechenbare Basis zu stellen, ist eigentlich anderes zu erwarten.
Für die FDP, die sich seit Jahren auf dem „absteigenden Ast“ bewegt, wäre ein klares Bekenntnis zum Abkommen – analog zu den aufstrebenden Grünliberalen – möglicherweise auch die Gelegenheit gewesen, sich von der SVP zu emanzipieren. Die Mitte, auch sie dem Rahmenabkommen einst gewogen, verliess der Mut ebenfalls. Wie so oft, bewegte sie sich ins Ungefähre und sandte Signale aus, die alles und nichts bedeuteten.
Inkonsequente Linke
Der Fall der Sozialdemokraten entbehrt nicht der Peinlichkeit. Liest man das Kapitel Europa ihres Parteiprogramms, gewinnt man den Eindruck, die SP sei auf ihrem Marsch in die EU kaum zu bremsen. Vor wenigen Tagen noch sagte ihr Co-Präsident Cédric Wermuth in einem NZZ-Interview, Beitrittsverhandlungen sollten kein Tabu sein. Doch zum Rahmenabkommen, eine kleinereTreppenstufe im Vergleich zur Hürde eines Vollbeitritts, konnte sich die Linke nicht durchringen.
Dass die Gewerkschaften den Lohnschutz mit Zähnen und Klauen verteidigen, mag man verstehen – Lohnschutz gehört zu ihrem Kerngeschäft. Unbegreiflich ist dagegen, dass die Partei vor dem Gewerkschaftsflügel einknickt, ihre ausschweifende Programmrhetorik zu europäischer Integration, Einigung, Friedenspolitik vergisst und sich an einem Einzelaspekt festbeisst.
Wie ist solches Auseinanderklaffen von Worten und Taten zu erklären? Hat die Linke Angst vor der eigenen Courage? Liegt es an der schmalen Erfahrung oder am engen Horizont des jugendlichen Co-Präsidiums? Oder an dessen ideologischer Versteinerung?
Ein Triumph für Blocher
Auffallend in jüngster Zeit war, dass eine emotionslos und sachlich geführte Debatte kaum noch möglich war. Alle auf dem Feld der Gegner sahen nur noch schwarz: Die Rappenspalter in der Mitte für die im Rachen der Unionsbürgerrichtlinie verschwindenden Millionen, die Linke für den Lohnschutz, die Souveränisten für die Souveränität, die Demokraten für die Demokratie usw. Eine ruhige Auslotung von Argumenten konnte nicht mehr stattfinden
Bildlich gesprochen sah das Geschehen aus, als hätte sich jede Gruppe zurückgezogen in ihr eigenes Réduit, aus dem heraus geredet, gerufen, mitunter geschrien wurde, in das hinein aber keine andere Meinung dringen durfte.
Im Grunde ist der nun erfolgte Abbruch der Verhandlungen ein riesiger Triumph für Christoph Blocher, ja, man könnte den Beschluss als Krönung seines Lebenswerks bezeichnen. Blocher polemisierte gegen das Rahmenabkommen, seit über dieses diskutiert wurde. Seine Kampagne richtete sich aber immer auch ganz generell gegen die Europäische Union. Er stellte sie als monströse, eigenmächtige, undemokratische, Länder und Leute bevormundende Institution dar. Besonders perfide war, dass er im Kontext der Beziehung Schweiz-EU das Wortpaar „Anpassung“ und „Widerstand“ verwendete und dergestalt suggerierte, es gehe heute um dieselbe Herausforderung wie zur Zeit des Zweiten Weltkriegs, als die Schweiz mit Nazideutschland konfrontiert war.
Solche Analogien wirkten ansteckend. Immer mehr Leute folgten dem Narrativ des alt Bundesrats; allmählich wurde es völlig normal, sich über die EU skeptisch, dann hämisch, schliesslich ablehnend, teils gar hasserfüllt zu äussern. Diese Saat ist aufgegangen. Was sich im heutigen Beschluss spiegelt: Faktisch haben sich Freisinnige, Linke und die Mitte Blochers Kolonnen angeschlossen. Wären sie auf Linie geblieben, hätte das Vorhaben nicht dieses Ende gefunden.
Max Petitpierre, Prophet
Der freisinnige Bundesrat Max Petitpierre war von 1944 bis zu seinem Rücktritt Ende Juni 1961 Aussenminister der Schweiz. Ein paar Monate vor seiner Demission widmeten sich seine Kollegen und er nochmals einer grossen weltpolitischen Tour d’horizon. Für Petitpierre stand fest, dass sich die Schweiz nach dem Krieg vom Réduit-Denken befreien und den Blick vermehrt nach aussen wenden musste. Als schwierigstes Problem betrachtete er die europäische Integration. Die Quintessenz seines Votums hält das Protokoll so fest: „Die Schweiz muss sich (…) die Integration Europas wünschen; sie gerät aber in eine immer schwierigere Lage, je mehr diese Integration verwirklicht wird.“
Das sind prophetische Worte. Persönlichkeiten wie Petitpierre wussten, weshalb die europäische Integration eine Notwendigkeit war. Es ging um ein Bollwerk gegen Nationalismus, Revanchismus und Imperialismus, mithin gegen das Dreigespann, das dem Kontinent in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert unglaubliche Verwerfungen zugefügt hatte. Von dieser (Haupt)-Rolle der Integration war in unserem Land während der ganzen Debatte nichts zu hören. Alle versteiften sich auf ihre kleinen Steckenpferde – und wiegen sich weiter in der Illusion, der Kleinstaat fahre allein am sichersten einer lichten Zukunft entgegen.