Der zweite Eindruck: Wie wenig wissen wir doch über die Kunst und das intellektuelle Leben Russlands kurz vor und während der Sowjetherrschaft. Der eigene Blick könnte diese Erweiterung gut vertragen. Als erstes stechen die Collagen Rodtschenkos ins Auge. Geist, Witz, Ironie und frappierendes formales Können erschliessen sich auch dem zeitlich und kulturell entfernten Betrachter.
Und so taucht man ein in das Leben von Alexander Rodtschenko und seinem Freundeskreis. Es ist ein aufregendes Leben gewesen, denn es war nicht nur durch historische Umbrüche geprägt. Vielmehr hat Alexander Rodtschenko von Kindheit an seine eigenen Welten kreiert. Das hatte er von seinem Vater. Der war Requisiteur an einem Theater in Petersburg. Die Wohnung lag über der Bühne. Real war, was auf der Bühne stattfand. Malen, Gegenstände kombinieren, mit ihnen Neues erfinden, das war schon seine Beschäftigung als Kind; Spielzeuge gab ihm sein Vater nicht.
Bevor Alexander Rodtschenko der Fotografie mit seiner ganzen Leidenschaft verfiel, hatte er sich in Moskauer Künstlerkreisen schon einen Namen als Maler, Grafiker, Bildhauer, Designer und Schriftsteller gemacht. Seit 1916 lebte er in Moskau, gehörte dort linken Gruppierungen an und zählte zur künstlerischen Avantgarde. Dass die Welt zu verändern sei, das war in den Jahren um 1912 bis in die Zwanziger hinein eine feste Überzeugung der meisten Intellektuellen und ihr Imperativ. Künstlerisch schlug sich die Überzeugung auch im „Konstruktivismus“ nieder. Konstruktivismus meint in diesem Zusammenhang, dass Bilder und Collagen nach geometrischen Gesetzmässigkeiten konstruiert werden, ganz so, wie auch die Gesellschaft nach Massstäben der Vernunft gestaltet werden sollte.
Die Begegnung mit der Fotografie bedeutete für Alexander Rodtschenko etwas, was der kanadische Philosoph Marshall McLuhan 1964 in den einprägsamen Satz fassen sollte: „Das Medium ist die Botschaft.“ Die Fotografie eröffnete dem Maler und Grafiker Rodtschenko ganz neue Dimensionen. „Experimentieren ist unsere Pflicht“, lautete die Parole seiner Gruppe, die sich 1923 um den Dichter Wladimir Majakowski zusammengeschlossen hatte und die Zeitschrift LEV (Linke Front der Künste) herausgab. Entsprechend nutzte Rodtschenko das neue Medium, um Perspektiven, Kontraste, Winkel und Momente – wie bei seinen bahnbrechenden Sportaufnahmen - in einer Weise ins Bild zu rücken, wie das kein Maler konnte.
1934 notierte er in seinem Tagebuch: „Ich will ein paar unglaubliche Aufnahmen machen, die niemals zuvor gemacht wurden. Aufnahmen vom Leben, absolut real, Fotografien, die einfach und komplex zugleich sind, die Menschen erstaunen und überwältigen. Dann wird es sich lohnen, für die Fotografie als Kunst zu kämpfen und zu arbeiten.“
Das Porträt seiner Mutter ist ein Beispiel von vielen für seine Radikalität. „Was man fotografiert, ist jedem Amateurfotografen klar, aber wie man dabei vorgehen muss, wissen nur wenige“, schrieb er in LEV 1928. Genau hierin bestand aber sein Verhängnis. Denn er und seine Freunde, herausragend die Freundschaft zu Wladimir Majakowski, dem er viele Porträts gewidmet hat, gerieten in das Schussfeld der „sozialistischen Realisten“.
Bilder, für die Rodtschenko mit Auszeichnungen überhäuft worden war, gerieten mit einem Mal in die Kritik. Besonders heftig wurde der „Trompetende Pionier“ angegriffen. Die einstmals hoch gepriesene „Rodtschenko-Methode“ war jetzt nur noch „bürgerlicher Formalismus“ oder, stalinistisch gewendet, Ausdruck des „linken Radikalismus“. Die sozialistischen Realisten wollten Bilder, die zeigen, „wie das Leben wirklich ist“. Rodtschenko konterte 1928: „Man muss den Genossen klarmachen, dass die Fetischisierung des Faktischen für die Fotografie nicht nur unnütz, sondern schädlich ist.“ Das sind keine leeren Worte. Seine Fotoreportagen, für die er ganz neue Stilmittel erfunden hat, zeigen nur zu genau, was er meint.
Schliesslich wurde Rodtschenko aus dem Künstlerverband ausgeschlossen. Einzig Ilja Ehrenburg setzte sich für ihn ein. Faktisch bedeutete das ein Berufsverbot und den Verlust der materiellen Existenz. Aber Rodtschenko fand Halt bei seiner Ehefrau Warwara Stepanowa, die für ihn Muse, Assistentin und Fotomodell war. Aber auch seine Kinder, Verwandte und enge Freunde bildeten einen schützenden Kreis um ihn.
In seiner Not widmete sich Rodtschenko einem Thema, das ihn in die Welt seiner Kindheit zurück führte: dem Zirkus. Über viele Jahre machte er dort mit seiner Leica, mit der er seit 1928 mehr und mehr verschmolzen ist, und einem speziellen Objektiv, dem Trambar-Weichzeichnungsobjektiv, zahllose Aufnahmen. Und er stellte dazu Betrachtungen an: Was ist mit einer Welt los, in der der Zirkus keinen Platz mehr hat? „Ein sozialistisches Land braucht also keine Bauchredner oder Zauberer? Jongleure? Teppiche, Feuerwerk, Planetarien, Blumen, Kaleidoskope?“, schrieb er am Schluss seines Tagebuchs „Schwarz und Weiss“, das 1939 erschienen ist.
Die ständigen Angriffe und die damit verbundenen erschwerten Lebensbedingungen haben die Gesundheit dieses stattlichen Mannes untergraben. In den fünfziger Jahren war Alexander Rodtschenko nicht mehr produktiv als Künstler tätig. Er starb im Dezember 1956 an den Folgen eines Schlaganfalls. 1957 fand in Moskau eine Ausstellung statt, die von seiner Frau Warwara, seiner Tochter und andere Mitgliedern seiner Familie gestaltet wurde. Sie zeigte ihn als das, was er in den Augen der Kenner war: „Vater der sowjetischen Fotografie“.
Die Austellung im Fotomuseum Winterthur gibt gibt nicht nur Einblicke in die Vielfalt des Werkes von Alexander Rodschenko, sondern zeigt auch Zeitschriften, Bücher und Plakate, die er zum Teil selber gestaltet hat. In vier Räumen erlebt man eine versunkene Welt, die uns unmittelbar berührt und anspricht.
Die Ausstellung geht noch bis zum 14. August 2011. Dazu gibt es einen vorzüglichen Katalog: Alexander Rodchenko (englische Schreibweise des Namens), Revolution in Photography, Moscow: Multimedia Complex of Actual Arts, Moscow House of Photography Museum, 2008