Den Ägyptern wird immer mehr klar, dass ihr Präsident das Land wirtschaftlich nicht voranbringen kann. Die Lebenskosten für die einfachen Leute wachsen immer weiter an, und mehr Arbeit als früher gibt es auch nicht. Das Unbehagen wächst
Die Bevölkerung erfährt auch, dass Ruhe und Sicherheit, die al-Sisi versprach, eher ab- als zunehmen. Ägypterinnen und Ägypter wissen auch, dass der Aufstand im Sinai nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte. Zwar ist wenig Konkretes und Verlässliches bekannt, weil nur die Armee über die Ereignisse auf der Halbinsel berichten darf. Und die Militärcommuniqués sprechen nur von Siegen. Doch die Bevölkerung weiss, dass die Zahl der Begräbnisse gefallener Soldaten ständig zunimmt. Via Mund-zu-Mund-Propaganda erfahren die Ägypter auch, dass die Zivilisten im Sinai misshandelt werden: von den Aufständischen und der Armee. Je weniger darüber in den Media zu erfahren ist, desto mehr blühen die Gerüchte.
Zu Terroristen erklärt
Die Brutalität der politischen Polizei erfährt die Bevölkerung am eigenen Leibe. Sie weiss, dass die Geheimpolizisten "tun können, was sie wollen". Und dass sie es tun. Wenn Einzelheiten davon ans Tageslicht dringen, sind dies besonders krasse Fälle, für die es durch Zufall Beweise gibt, welche die Richter nicht abstreiten können. So, als ein Polizist einen Taxifahrer erschoss, weil er mit ihm über den Fahrpreis in Streit geraten war. Zeugen hatten den Zwischenfall mit Handys gefilmt.
Man weiss nur zu gut, wie es in den Gefängnissen zugeht. Zehntausende Ägypter sind in Haftanstalten verschwunden. Nicht nur Muslimbrüder und deren Sympathisanten, die einst ein knappes Drittel aller Ägypter ausmachten. Neuerdings werden immer mehr Aktivisten und Sympathisanten von Jugend- und Protestgruppierungen ist Gefängnis geworfen. Sie waren während der Demonstrationen auf dem Befreiungsplatz in Kairo von 2011 berühmt geworden. Alle wurden inzwischen zu Terroristen erklärt.
Zehn Tage lang gefoltert
Die Affäre um Giulio Regeni, den italienischen Cambridge-Doktoranten, überraschte die Italiener, die Ägypter jedoch nicht. Regeni betrieb in Ägypten Forschungen über das Gewerkschaftswesen. Seine Leiche wurde zehn Tage nach seinem Verschwinden am Rande der Wüstenstrasse aufgefunden, die Kairo mit Alexandria verbindet. Die ägyptische Polizei erklärte, er sei durch einen Schlag mit einem schweren Gegenstand auf den Hinterkopf umgekommen. Wenn er Ägypter gewesen wäre, hätte man wohl den Vorfall ad acta gelegt.
Doch die Italiener bestanden auf einer Autopsie durch italienische Gerichtsexperten. Diese ergab, dass der Student gefoltert wurde. Seine Fingernägel waren ausgerissen. Seine Augen waren mit Zigarettenstummeln verbrannt worden und seine Sohlen mit einer Ahle malträtiert. Die Knochen seiner Arme, Beine und Rippen waren gebrochen – ebenso die Wirbelsäule. Zehn Tage lang wurde er gefoltert, bevor er starb.
Botschafter zurückgerufen
Daraufhin erklärte die Polizei, sie habe eine Höhle von vier Verbrechern ausgehoben, die Regeni entführt und gefoltert hätten. Die Polizei habe alle Vier erschossen. Sie habe bei ihnen die Identitätskarten und andere persönliche Gegenstände Regenis gefunden. Darunter war auch sein Handy. Im Verlauf der weiteren Diskussionen mit den italienischen Diplomaten räumte die Polizei ein, sie habe Regeni unter Beobachtung gestellt. Die Italiener verlangten, dass sie Einsicht in die gespeicherten Daten zu Regeni erhielten, doch die ägyptische Polizei weigerte sich, diese herauszurücken. In der Folge rief Italien seinen Botschafter in Kairo „zu Konsultationen“ zurück. Dies ist eine Formalität, die einem möglichen Bruch der diplomatischen Beziehungen vorausgeht. Dazu wird es nicht kommen. Doch Italien hat sich an die EU gewandt und um Beistand gebeten.
Italien selbst ist ein wichtiger Wirtschaftspartner Ägyptens. ENI, die staatliche Erdölfirma Italiens, hat das grösste Gasfeld des Mittelmeers, das vor dem ägyptischen Delta liegt, entdeckt und betreibt es heute. Italien war daher das erste Land, das al-Sisi als Präsident besuchte, und die Beziehungen galten damals als fruchtbar...
Saudi-Arabien "kauft" ägyptische Inseln
Der Fall Regeni und vieles mehr haben dazu geführt, dass viele Ägypter von der erhofften Rettungsfigur al-Sisi enttäuscht sind. Dies trotz oder vielleicht gerade deshalb, weil die staatlichen Medien den Präsidenten mit grossen Propagandakampagnen noch immer als den Retter des Landes preisen.
Überraschenderweise ist es nun eine Affäre mit Saudi-Arabien, welche erneut Demonstranten auf die Strasse gebracht haben. Anlässlich eines offiziell hoch bejubelten Staatsbesuches des saudischen Königs Salman und einer grossen Gefolgschaft in Ägypten hat Präsident al-Sisi aus eigenem Ermessen zwei unbewohnte Inselchen am Ausgang des Golfes von Akaba, die seit 1950 zu Ägypten gehörten, an Saudi-Arabien abgetreten. Die beiden Felseninseln, Tiran und Sanafir, stehen in jedem Geografie-Buch der ägyptischen Schulen als ägyptische Inseln. Vor der Suezkrise und dem Sechstagekrieg sperrte Ägypten von diesen Inseln aus die Strasse von Tiran für israelische Schiffe. Dies war der Anlass für den Sechstagekrieg.
Mit Israel abgesprochen?
Von Tiran und Sanafir aus könnten der Golf von Akaba und damit der israelische Hafen von Eilat gesperrt werden. Doch Israel hat nicht gegen die Übergabe der Inseln an Saudi-Arbien protestiert. Dies lässt darauf schliessen, dass die Übergabe zuvor zwischen Saudi-Arabien und Israel sowie vielleicht auch mit Ägypten abgesprochen worden war. Jedenfalls vermuten dies die ägyptischen Journalisten, ohne es zu wagen, diese Vermutung offen auszusprechen.
Der Präsident hat sein Tun in mehreren Reden, teils auch am Fernsehen, zu rechtfertigen versucht. Er behauptete, die Inseln hätten in Wahrheit Saudi-Arabien gehört. Ägypten habe sie nur vorübergehend verwaltet und nun dem rechtmässigen Besitzer zurückerstattet. Er erklärte auch, das Parlament werde demnächst das Abtreten der Inseln absegnen. Das Parlament wird dadurch offen zu al-Sisis Handlanger degradiert.
Sisi erklärte auch, er fürchte die Reaktionen des Auslandes nicht. Doch die "Teufeleien", die im Inland durchgeführt würden, beunruhigten ihn zu tiefst. Er warnte die Ägypter, sich nicht von Unruhestiftern verführen zu lassen.
"Ägypten steht nicht zum Verkauf"
Natürlich erklärten die Regierungssprecher, die Muslimbrüder stünden hinter den Protesten. Sie haben in der Tat den "Verkauf" ägyptischen Bodens an Saudi-Arabien verurteilt. Die Demonstranten, die jetzt auf die Strasse gingen, konzentrierten sich auf Inseln. Sie haben damit ein Thema gefunden, das die stark zersplitterte Opposition gegen das Regime al-Sisis zusammenbringt: "Ägypten steht nicht zum Verkauf". Als „Verkauf“ erscheint der Schritt des Präsidenten auch deshalb, weil gleichzeitig mit der Übergabe der Inselchen bekannt wurde, die Saudis hätten in Ägypten 16 Milliarden Dollar angelegt. Es war auch die Rede von einem Plan, eine Brücke zu bauen, die Saudi-Arabien mit Ägypten verbinden soll.
Doch grandiose Pläne sind den Ägyptern allzu oft versprochen worden, seit al-Sisi die Macht übernommen hatte. Seine laut gefeierte Erweiterung des Suezkanals hat bisher kaum neue Gebühren gebracht, weil der Verkehr durch den Kanal angesichts der gesunkenen Erdölpreise und Erdöltransporte abgenommen hat. Die Erweiterung brachte auch nicht viele neue Arbeitsplätze, weil der Präsident die Arbeiten durch die Armee durchführen liess. Seine Pläne für eine zweite Stadt Kairo brachen zusammen, weil die Finanzierung nicht zustande kam.
Der Nationalismus ist zurück
Das Thema der Inseln ruft den ägyptischen Nationalismus auf den Plan. Er ist nach wie vor vorhanden, wenn auch versteckt. Doch er kann jederzeit ausbrechen. Die Polizei ging relativ milde mit dem Demonstranten um. Die Sicherheitskräfte schossen in die Luft und feuerten Tränengas ab. In Kairo und Alexandria wurden mindestens sechzig Demonstranten festgenommen.
Die kommenden Freitage werden zeigen, ob es sich um eine tiefer gehende Protestwelle handelt, oder nur um eine vorübergehende Aufwallung. Die Freitage sind kritisch, weil sich dann jeweils grosse Menschenmengen zum Mittagsgebet versammeln. Wenn sie dann die Moscheen verlassen, könnten leicht Demonstrationen ausbrechen. Zurzeit lässt sich nur sagen, dass die Unzufriedenen aller Lager ein Thema gefunden haben, das sie zusammenbringt.